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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Böhm, Wilhelm: Gestalt und Glaube in der Hölderlinliteratur
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0056
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WILHELM BÖHM

Kommerell selbst ist als Dichter fruchtbar: In seinem außerordentlich
gekonnten Roman15) werden einmal Menschen unterschieden, die treffen,
ohne zu zielen, und zielen, ohne zu treffen. Wenn es aber zweifellos auch
Menschen gibt, die treffen, weil sie zielen, und nicht treffen, weil sie nicht
zielen, so ist bei Kommerell die Frage, ob die Liebe, mit der er an den
ersten hängt, sich mit einer Liebe auch zu den zweiten vereinigt, oder ob
er die zweiten negativ bewertet. Der Schluß des Romans mit dem Aus-
einanderleben von Menschen, die erst verwandt, und dem Verfließen sol-
cher, die erst gegensätzlich fühlten, denen allen der Zufall eines geselligen
Gesprächs zum Schicksal wird, läßt keinen Rückschluß auf die Stellung
des Dichters zu, und der Titel „Eine Geschichte von gestern" braucht
kein ironischer Abschied vom Gestern zu sein10), sondern kann auch die
Elegik verhüllen, daß sie nicht von heute sein darf. Der Dichter hat das
Vorrecht, wenn er nicht selbst dazu einlädt, daß man an ihn die Kabinetts-
frage nicht stellen darf; er darf uns auch mit Ahnungen beschäftigen,
wie Goethe im „Märchen". Wissenschaft jedoch steht immer vor der Kri-
sis; sie darf es sich nicht leisten, ironisch oder elegisch zu sein, sondern
kann nur Neues aufbauen, indem sie Altes zerstört. Hier ist der unbe-
streitbare Ort jenes „Entweder-Oder", den die dialektische Theologie,
von der oben gesprochen war, allein für den Glauben beansprucht.

Kommereils Zwielicht führt ebenso zu Hölderlins Ganzheitsschau
hin, wie von ihr weg; denn Hölderlins Aufgabe ist, das Mysterium der
Existenz, wennschon ins Lied gehüllt, nach Ursache und Wirkung zu
„deuten". — Dieses Zwielicht kann ferner allgemein für wissenschaftliches
Denken fruchtbar sein, aber ebenso zu Schwärmerei verführen. — So brin-
gen auch die übrigen Aufsätze immer nur zur Hälfte Wahres. Aber sie
scheinen mir der wissenschaftlichen Forderung, kritisch fruchtbar ge-
macht zu werden, zugänglicher als der Hölderlinaufsatz17). In unserem
Zusammenhang sei jedoch nur auf den Aufsatz „Schiller als Psychologe"
verwiesen, weil hier Schiller positiver gewertet wird, als bei Hildebrandt,
und, anders als bei Guardini, die Psychologie des Dichters neben der des
Wissenschaftlers als charakterisierender Vorzug betrachtet wird.

16) Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. S. Fischer. 1940.
So: Paul Fechter, DAZ. v. 13.X.40, Nr. 493.

") Auf die beiden Aufsätze zu „Faust" komme ich demnächst in einer größeren
zweiten Arbeit über Goethes Faust zurück. Ich erwähne diese Arbeit schon aus dem
Grunde, weil man mein früheres Buch „Faust der Nichtfaustische" auf dialektische
Theologie abgestempelt hat, und im vorliegenden Aufsatz meine eigentliche Stellung
dazu klar wird.
 
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