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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Bruchhagen, Paul: Über den Sinn der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0058
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PAUL BRUCHHAGEN

Klingen gehört zum Wesen der Töne. Töne sind meßbare phy-
sikalische Erscheinungen. Klingen kann nur erlebt werden. Die Kunst
der Musik wird auch Objekt des Verstandes, weil sie Formung ist. Das
Kompcsitionsmaterial muß also dem Verstände mittelbar zugänglich sein.

Träger des Klingens sind in materialer Hinsicht die Töne und
Akkorde, in formaler Hinsicht die Noten und das Notensystem. —

Das Klingen ist mit oder in Fülle gegeben. Es bildet die Substanz des
Tones und Akkordes, die materiale Bedingung der Möglichkeit von Mu-
sik überhaupt. Sein Vermögen zur Fülle ermöglicht wesentlich mit das
Intervall, die Abfolge, Melodie, Harmonie, Rhythmus, Bewegung, Form.
Man kann demnach das Vermögen zur Fülle die formale Bedingung der
Möglichkeit aller und jeder Musik nennen.

Wie ist es nun mit der Fülle selber? Fülle „begründet" die Diesheit
dieses Intervalls, jenes Rhythmus, dieser Melodie, jener Harmonie. Sie
„begründet" die Farbe, die Lage, die Intensität, die Dauer der Töne. Fülle
kann man und wird man bestätigt finden im Erlebnis. Aber was ist denn
nun die Fülle? Fülle ist ein notwendiger Bestandteil der Musik. Sie ist es
letztlich, die eine Tönereihe zur Melodie, eine vieladrige Klangfläche zur
Harmonie, Melodie und Harmonie zu Kunst, die klingende Bewegung zur
Form macht. Im Erlebnis versteht man diese Fülle, aber die Aussage
darüber bereitet nicht geringe Schwierigkeiten.

Man nennt sie etwa das Leben in dem musikalischen Organismus, den
Geist der Musik, die Seele derselben, den Inhalt, den Gehalt, den Sinn.
Und dann kommt der Widerstreit der Standpunkte hinzu. Je nach der
Definition hat die Musik entweder einen Inhalt oder keinen. Gehalt kann
Sinn, Sinngehalt, Sinnfülle sein.

Man kann das Sinnproblem in der Form lösen, indem man alle Musik,
die Fülle birgt, sinnvoll nennt. Dann geht man nicht näher auf das Inhalts-
und Gehaltsproblem ein. Man kann aber die Frage zuspitzen: Wenn man
Inhalt und Gehalt annehmen will und unterscheiden kann, was ist dann
Sinn?

Äußerlich gesehen gibt es die Fülle des Intervalls, die Fülle des The-
mas, die Fülle des Verlaufes, des Satzes, die Fülle am Ende, zum Ende
des Satzes.

Man sollte erwarten, daß Melodien und Harmonien ihre eigene Fülle
haben, die sich von der des Satzes besonders abhebt. Tatsächlich gibt es
Melodien und Harmonien ohne eine nur ihnen zukommende Fülle. Diese
nennen wir Formen, wovon wir die Gestalten unterscheiden. Gestalten
sind also Themen und Melodien, die eine ihnen eigene Fülle darbieten.
Formen bauen sich aus den kleinstmöglichen formalen Einheiten, Inter-
 
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