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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Wilhelm, Wolfgang: Untersuchung über das Filmerleben, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0125
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UNTERSUCHUNG OBER DAS FILMERLEBEN

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inneren Aufnahme und Verarbeitung übersteigt; es ergeht dem Film-
beschauer dann wie dem Gefangenen, der, jahrelang nur die Enge der
Zelle kennend, am Tage seiner Freilassung fassungslos die Flut unge-
wohnter Eindrücke erleidet.

Um sich aus solcher Bedrängnis zu lösen, muß der Filmbesucher die
Bewegung der Hingabe vollziehen, d. h. sich freiwillig dem verwirrend
eindringenden Geschehen öffnen. Nur so kann es ihm gelingen, daß er
vom Strom der mechanisch ablaufenden Bilder nicht mehr bedroht, son-
dern getragen wird. Während im Erleiden der Eindrucksfülle ein erstaun-
tes, zögernd widerstrebendes Ich gegenübersteht, wird Hingabe möglich,
wenn der Zuschauer verzichtet, sich dem Geschehen zu widersetzen. Im
Erleiden schwingt noch eine Spur von Selbstbehauptung; erst bei deren
Verschwinden entsteht Hingabe. Am ehesten kann die Hingabe dort voll-
zogen werden, wo der pausenlose Bildfluß sich zur Intensität einer Groß-
aufnahme staut und der Zuschauer aufatmend verweilen darf.

Die Gehetztheit der Bildfolge macht es dem Zuschauer unmöglich,
sich zu besinnen und das Aufgenommene einzuordnen. Das festbegründete
Tiefenerlebnis ist nach K1 a g e s eine Verknüpfung des gegenwärtig Auf-
genommenen mit einer eingliedernden Rückschau2). Das Erlebnis bedarf
deshalb eines weitgespannten zeitlichen Rahmens; gerade diesen zeitlichen
Rahmen aber sieht der vorwiegend erleidende Zuschauer durch den schnel-
len Bildwechsel der Filmmontage gesprengt. Sein Aufnehmen ist ein punkt-
förmiges Springen von Gegenwart zu Gegenwart. Der schnelle Ablauf
der Zeit macht eine Erinnerung unmöglich. Dagegen gestattet die Groß-
aufnahme ein längeres Verweilen, so daß der Zuschauer eine persönliche
Beziehung zum Filmbild erhält. Von der Großaufnahme ausgehend, gibt
er sich dem gesamten Bildfluß hin.

„Die Dynamik des filmischen Geschehens ist so mitreißend, daß jeg-
liche Reflexion ausgeschaltet werden kann. Eins geht ins andere über,
und dieser dauernde Wechsel hält einen in Spannung und Atem. Ich
möchte sagen, man ist bei scheinbar höchster Aktivität der gesamten Ge-
fühlsbeteiligung doch ganz passiv, ganz aufnahmebereit." (Studentin der
Psychologie.)

„Ich öffne mich ganz dem Geschehen und warte mit großer Span-
nung." (Berufstätige.)

In einem männlichen Bericht wird der Vorgang der Hingebung im
Spiegel der Reflexion beobachtet; der Filmmusik wird dabei eine ent-
scheidende Rolle zuerkannt:

„Die chaotische Musik am Anfang schien mir gleichsam auf eine Zer-
störung des eigenen Zustandes oder der festen Einstellung, mit der man

2) Vgl. K 1 a g e s, Vom kosmogonischen Eros, 1926.
 
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