BEMERKUNGEN
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darbieten soll. Diesen Eindruck zu erzielen, müsse der Bildhauer sich dieselbe in einer
Raumschicht von gleichem Tiefenmaß eingebettet denken, innerhalb deren die unzäh-
ligen Richtungen ihrer Einzelformen sich vorstellungsmäßig in hintereinanderliegen-
den Parallelflächen einigen (bzw. ordnen) sollen. Wenn er die sie von vorn durchdrin-
genden Bewegungsvorstellungen seiner Meißelarbeit als Wesensmerkmal der Relief-
auffassung ansieht, so wird er zwar deren mannigfaltigem Zusammenspiel optischer
und haptischer Wirkungsformen keineswegs gerecht, wohl aber dem Grundgesetz
des vollentwickelten griechischen Hochreliefs. Wie alle Reliefgestaltung beruht dem-
nach auch dieses auf einer flächenhaften Bildvorstellung. An Stelle des mißverständ-
lichen Ausdrucks „Fernbild" habe ich deshalb den Wortbegriff der flächenhaften „S e h -
form" aufgestellt. Hildebrand stieß mit der Behauptung, daß diese Vorstellungsweise
für alle Steinskulpturen maßgebend sei, alsbald auf den Widerspruch A. Schmarsows,
der (in seinen Beiträgen zur Ästhet, d. Bild. Künste I. u. III.) für alle Freiplastik
vielmehr eine die Gestalt gleichsam abtastende bewegte Sehweise annehmen zu müssen
glaubte. Ihm erstand zwei Jahrzehnte später ein Bundesgenosse in Rud. Bosselt als
ausübendem Vertreter plastischer Kunst; der ihre Abhängigkeit von einer Bildvor-
stellung (bzw. der Zeichnung) entschieden bestritt und, ausgehend von Rodins
Schaffen, ihr Wesen vor allem auf das erfühlte (haptische) Wissen von den Flächen-
formen und die kubische Gestaltvorstellung begründen wollte. Er ging so weit, die
Entbehrlichkeit jeder Gesichtsvorstellung für sie unter Berufung auf die Blinden-
plastik zu behaupten: In eingehender Auseinandersetzung über „Das Problem der
Form in neuer Beleuchtung" (Zeitschr. f. Ästhetik u. allgem. K.-Wiss. 1919) habe ich
dagegen geltend gemacht, daß die Ergebnisse von Modellierversuchen mit blinden
Kindern von denen sehender durch ihre gröbere Formengebung abweichen. Neuere
psychologische Untersuchungen (L. Münz u. V. Löwenfeld, „Plastische Arbeiten
Blinder", Brünn 1934) in einer Wiener Blindenklinik haben an solchen blindgeborener
Erwachsenen das vollauf bestätigt und den Grund darin erwiesen, daß durch das
Tastgefühl allein nur die kubische Ganzheitsform erfaßt wird. Und da die Ding-
vorstellung des Sehenden sich doch fraglos von derjenigen des Blinden dadurch
unterscheidet, daß sie auf verschiedenen Ansichten des Gegenstandes beruht, in
denen er sogleich das ihm bekannte körperliche Tastbild desselben erkennt, so wer-
den wir die bildnerische Begabung erst recht auf eine noch höhere Klarheit solcher
aus ineinander übergleitenden Gesichtseindrücken und mit ihnen verknüpften Tast-
und Bewegungsempfindungen verstehen müssen, die sich wechselseitig anzuregen
vermögen. Für diese (kubische) anschauliche Vorstellungsweise habe ich a. a. O. als
gegensätzlichen Begriff zur Sehform den der Sehvorstellung aufgestellt und
sie als die beiden Wurzeln der Relief- und der Frei-(bzw. Rund-)plastik gekennzeichnet,
was auch hier gelten soll.
Belehrt uns schon die Kinderkunst darüber, daß dieser Unterschied keineswegs
durch die Technik bedingt ist, sehen wir doch in der kindlichen Knetarbeit beiderlei
Arten von Gebilden entstehen, so muß doch die Frage gestellt werden, ob sie nicht
die Entfaltung der einen oder anderen Vorstellungsweise begünstigen oder erschwe-
ren. In der Tat liegt es ja auf der Hand, daß die technischen Gestaltungsmöglich-
keiten in hohem Grade von der Bildsamkeit des Stoffes abhängen. Dem Verfahren
des Künstlers stehen zwei Hauptwege offen: ein abtragender und ein aufbauender,
die ein überliefertes Wort Michelangelos als „per forza di levare" und „via di porre"
umschreibt. In der Steinskulptur bleibt der Bildhauer ganz auf das erstere beschränkt,
während in der Tonbildnerei die Ghiferti die Mutter aller Plastik nennt, zuerst
die kubische Grundform aufgebaut werden muß, die dann allerdings ihre Durch-
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darbieten soll. Diesen Eindruck zu erzielen, müsse der Bildhauer sich dieselbe in einer
Raumschicht von gleichem Tiefenmaß eingebettet denken, innerhalb deren die unzäh-
ligen Richtungen ihrer Einzelformen sich vorstellungsmäßig in hintereinanderliegen-
den Parallelflächen einigen (bzw. ordnen) sollen. Wenn er die sie von vorn durchdrin-
genden Bewegungsvorstellungen seiner Meißelarbeit als Wesensmerkmal der Relief-
auffassung ansieht, so wird er zwar deren mannigfaltigem Zusammenspiel optischer
und haptischer Wirkungsformen keineswegs gerecht, wohl aber dem Grundgesetz
des vollentwickelten griechischen Hochreliefs. Wie alle Reliefgestaltung beruht dem-
nach auch dieses auf einer flächenhaften Bildvorstellung. An Stelle des mißverständ-
lichen Ausdrucks „Fernbild" habe ich deshalb den Wortbegriff der flächenhaften „S e h -
form" aufgestellt. Hildebrand stieß mit der Behauptung, daß diese Vorstellungsweise
für alle Steinskulpturen maßgebend sei, alsbald auf den Widerspruch A. Schmarsows,
der (in seinen Beiträgen zur Ästhet, d. Bild. Künste I. u. III.) für alle Freiplastik
vielmehr eine die Gestalt gleichsam abtastende bewegte Sehweise annehmen zu müssen
glaubte. Ihm erstand zwei Jahrzehnte später ein Bundesgenosse in Rud. Bosselt als
ausübendem Vertreter plastischer Kunst; der ihre Abhängigkeit von einer Bildvor-
stellung (bzw. der Zeichnung) entschieden bestritt und, ausgehend von Rodins
Schaffen, ihr Wesen vor allem auf das erfühlte (haptische) Wissen von den Flächen-
formen und die kubische Gestaltvorstellung begründen wollte. Er ging so weit, die
Entbehrlichkeit jeder Gesichtsvorstellung für sie unter Berufung auf die Blinden-
plastik zu behaupten: In eingehender Auseinandersetzung über „Das Problem der
Form in neuer Beleuchtung" (Zeitschr. f. Ästhetik u. allgem. K.-Wiss. 1919) habe ich
dagegen geltend gemacht, daß die Ergebnisse von Modellierversuchen mit blinden
Kindern von denen sehender durch ihre gröbere Formengebung abweichen. Neuere
psychologische Untersuchungen (L. Münz u. V. Löwenfeld, „Plastische Arbeiten
Blinder", Brünn 1934) in einer Wiener Blindenklinik haben an solchen blindgeborener
Erwachsenen das vollauf bestätigt und den Grund darin erwiesen, daß durch das
Tastgefühl allein nur die kubische Ganzheitsform erfaßt wird. Und da die Ding-
vorstellung des Sehenden sich doch fraglos von derjenigen des Blinden dadurch
unterscheidet, daß sie auf verschiedenen Ansichten des Gegenstandes beruht, in
denen er sogleich das ihm bekannte körperliche Tastbild desselben erkennt, so wer-
den wir die bildnerische Begabung erst recht auf eine noch höhere Klarheit solcher
aus ineinander übergleitenden Gesichtseindrücken und mit ihnen verknüpften Tast-
und Bewegungsempfindungen verstehen müssen, die sich wechselseitig anzuregen
vermögen. Für diese (kubische) anschauliche Vorstellungsweise habe ich a. a. O. als
gegensätzlichen Begriff zur Sehform den der Sehvorstellung aufgestellt und
sie als die beiden Wurzeln der Relief- und der Frei-(bzw. Rund-)plastik gekennzeichnet,
was auch hier gelten soll.
Belehrt uns schon die Kinderkunst darüber, daß dieser Unterschied keineswegs
durch die Technik bedingt ist, sehen wir doch in der kindlichen Knetarbeit beiderlei
Arten von Gebilden entstehen, so muß doch die Frage gestellt werden, ob sie nicht
die Entfaltung der einen oder anderen Vorstellungsweise begünstigen oder erschwe-
ren. In der Tat liegt es ja auf der Hand, daß die technischen Gestaltungsmöglich-
keiten in hohem Grade von der Bildsamkeit des Stoffes abhängen. Dem Verfahren
des Künstlers stehen zwei Hauptwege offen: ein abtragender und ein aufbauender,
die ein überliefertes Wort Michelangelos als „per forza di levare" und „via di porre"
umschreibt. In der Steinskulptur bleibt der Bildhauer ganz auf das erstere beschränkt,
während in der Tonbildnerei die Ghiferti die Mutter aller Plastik nennt, zuerst
die kubische Grundform aufgebaut werden muß, die dann allerdings ihre Durch-