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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 41.1930

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Schumacher, Fritz: Raum-Erlebnis und Gestaltungstrieb: vom Tastsinn und Metaphysischen Tastgefühl
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https://doi.org/10.11588/diglit.10703#0069

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RAUM-ERLEBNIS UND GESTALTUNGSTRIEB

VOM TASTSINN UND METAPHYSISCHEN TASTGEFÜHL

Raum wird vom Menschen als künstlerisches
Erlebnis nicht nur durch das Auge aufgenom-
men, sondern durch noch andere ästhetische Wir-
kungen, die mit der Bewegung zusammenhängen,
die er weckt. . Die räumliche Gestlatung im Archi-
tektur-Werk übt ihren Einfluß auf die Bewegung
des betrachtenden Menschen. Es gibt viele Men-
schen, die den Raum mehr empfinden durch jene
halbbewußten Eindrücke, die sich im »Rhythmus
der Bewegung« abspielen, als durch das, was

sie bewußt mit dem Auge aufnehmen.......

Wenn wir fragen, welche besonderen Einwir-
kungen die zum Erfassen des Bauwerks nötige
»Bewegung« auslöst, so stoßen wir auf das Tast-
gefühl. Es spielt in der Architektur eine größere
Rolle, als ihm meist zuerkannt wird. . Die ein-
fachste und bekannteste Form, in der sich dieses
Tastgefühl geltend macht, ist ihrem Wesen nach:
Erlebnis der Material - Oberflächen. Die Bewe-
gung, die mit dem Erfassen des baulichen Werkes
in untrennbarer Verbindung steht, setzt sich zum
einen Teil um in Tast-Empfindungen, . . .

-k

Aber nicht diese einfachen Empfindungen der
unmittelbaren Berührung sind das Bemerkens-
werte. . Unserem gesamten Körper ist ein »Tast-
vermögen« eigen, das sich nicht auf die Materie
des Bauwerkes bezieht, sondern auf das von der
Materie Umschlossene, in dem wir uns befin-
den. Diese ganz bestimmte »Luftgestalt«, die wir
»Raum« nennen, tritt in Wechselwirkung mit den
feinsten Nerven unserer Leiblichkeit. Mit einer
Art »metaphysischen Tastsinns« erfühlen
wir die Schwingungen des Raumes Was wir füh-
len, ist: eine Resonanz unseres gesamten Kör-
pers auf diese Schwingungen des Raumes, Wir
ertasten die Gesetze des Raumes mit unseren
Gefühlsnerven, und nun beginnen sie durch ge-
heimnisvollen Kontakt in uns zu schwingen. Wir
schwingen.. Das unnennbare Gesetz kubischer Ab-
messungen und bewegter Wölbungen teilt sich uns
mit, weil wir es als Begrenzung unseres Seins emp-
finden. Das ist ein motorischer Vorgang der Aus-
strahlungen eines wenig erforschten, durch »Wel-
len« wirkenden Tastgefühls. . Diese Regungen
mischen sich mit den weit mächtigeren optischen
Eindrücken. Diese seltsame Mischung ist es, was für
das eigentliche Wesen des ästhetischen Eindrucks
architektonischer Kunstwerke maßgebend ist. . .

*

Zum Begriff des Raumes tritt vermöge der
Wirkungen der Bewegung der Begriff der Zeit,
zu den optisch vermittelten Eindrücken des Rau-
mes treten die motorisch vermittelten Eindrücke
der Zeit. Der Zeitbegriff ist untrennbar mit dem

vollen Erfassen des Wesens der Architektur ver-
bunden. Das Wesen der Architekturwirkung ragt
in jene vierte Dimension, die uns geläufig gewor-
den ist durch die Gedankengänge der Relativitäts-
theorie, die aus der Zeitgebundenheit aller Be-
obachtungen und Vorgänge ihre wissenschaftlichen
Folgerungen zieht. Erst wenn wir den Zeitbegriff
der Bewegung mit den Begriffen der drei Koor-
dinaten-Systeme verbinden, die uns den Raum
geben, können wir das Phänomen voll erfassen, das
uns im architektonischen Kunstwerk entgegentritt.

Durch diese Wahrnehmungen wird in unserem
Innern ein »geistiges Bild« geweckt; die zeit-
lich sich abrollenden Wirkungen der Bewegung
bringen es mit sich, daß wir das optisch gar-
nicht faßbare Bild der organischen »Idee« eines
Architektur-Gebildes in uns tragen und dieses aus
der motorischen Betätigung entstandene, gleich-
sam ertastete Bild mit dem jeweiligen optischen
Bilde bewußt oder unbewußt verbinden.. Dadurch
leben wir in dem Bau-Organismus. Wir
werden gleichsam ein Teil von ihm. Eine geheim-
nisvolle Verschmelzung verschiedener Gefühls-
Elemente mit Verstandes - Elementen findet statt
und erzeugt das Raum-Erlebnis der Seele.

*

Wenn der Mensch Materie zu architektonischer
Gestaltung formt, legt er ihr das Gesetz des
menschlichen Geistes auf. Dies Gesetz ist im Ge-
gensatz zu dem, was wir »Natur« nennen, begrün-
det auf mathematischen Begriffen. Unser Geist
ist gebunden an »Maß und Zahl«. Aus Maß
und Zahl entstehen seine Ausdrucksmittel: es sind
die Ausdrucksmittel der »Proportion«. Ver-
hältnisse von Zahlen und Maßen bilden die ab-
strakte Sprache der Kunst in Tönen, in Farben, in
Formen und in Bewegungen. Zielt die Kunst als
Architektur zur raumbildenden Formung, so sind
es Verhältnisse von Linien, von Flächen, von
Kurven und von Körpern, wodurch sie spricht.
Diese Sprache der Architektur ist ebenso wie die
Sprache der Musik eine »Sprache der Verhält-
nisse« — wir können auch sagen der »Schwing-
ungen« — die das eine Mal dem Auge, das andere
Mal dem Ohr mitgeteilt werden...........

Die Art, wie Harmonie oder Kontrast
dieser Schwingungen in Wechselwirkung miteinan-
der treten, ist charakteristisch für die Gesamt-
Stimmung einer Zeit. Sie erzeugt den ihr eigen-
tümlichen »Rhythmus«. Wohl wird dieser
Rhythmus durch die Forderungen des »Zwecks«
und die Möglichkeiten der »Konstruktion« beein-
flußt, aber beide geben nur die Mittel des Aus-
drucks; der Grund-Trieb, der diese Mittel nützt,
ist ein drittes. Es ist der Gestaltungs-Trieb.
 
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