Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0281

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
5.1 Kausalkonzepte psychologischer Störungstheorien

Nach psychoanalytischer Auffassung schafft ein ödipaler Konflikt in der Kindheit
eine dispositionelle Motiv- und Handlungsstruktur, die über den Verlauf des Lebens
beibehalten wird. Sie soll immer wieder, insbesondere in Partnerschaften, aktiviert wer-
den und - falls sie psychotherapeutisch unbearbeitet bleibt - fortlaufend zu
interpersonalen Problemen oder gar zu psychischen Störungen führen - die Person steht
unter „Wiederholungszwang". Jedoch erscheint es durchaus problematisch, die
psychischen Probleme einer vierzigjährigen Frau immer noch aus der Perspektive ihrer
Vater-Übertragung heraus zu betrachten, auch wenn sie mit zwanzig einen dreissig Jahre
älteren Mann geheiratet hatte (und das damals vielleicht naheliegend war). Inzwischen
haben sich in dieser Ehe das partnerschaftliche Rollenverhältnis, die Verteilung von
Aktivitäten, Verantwortung, Versorgung und Pflege völlig umgekehrt. Selbst wenn Teile
der als Kind erlebten konflikthaften Situation mit dem eigenen Vater immer noch
verhaltenswirksam sein sollten, dürften sie im Verlauf des Lebens, durch geänderte
Lebensumstände und nicht zuletzt durch die aktive Auseinandersetzung mit ihnen einen
erheblichen Wandel vollzogen haben.

Gegenüber einem solchen Konzept hebt sich ein entwicklungsorientiertes For-
schungsprogramm ab, das dispositionelle Bedingungen eingebettet sieht in den lebens-
langen Wandel des Person-Umwelt-Systems. Zwischen früheren und gegenwärtigen
Konstellationen bestehen danach nur begrenzte funktionale Abhängigkeiten. Zwischen-
zeitlichen Erfahrungen nach der frühen Kindheit kommen ebenso große Bedeutungen zu
wie den frühen. Diese Position wird durch eine Vielzahl von Untersuchungen gestützt,
die auf den verschiedensten Gebieten nur eine geringe Vorhersagekraft von psychischen
Störungen im Erwachsenenalter aus Bedingungen der frühen Kindheit aufgefunden ha-
ben (•=> 2.3.3 und 5.4.3.2). Auch aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive findet
diese Auffassung der funktionellen Autonomie der Persönlichkeitsentwicklung eine Stüt-
zung. Gordon Allport (1959, S. 194) hat dies vor allem für zentrale Handlungsmotive
des Menschen herausgearbeitet, wenn er feststellt: „Motive des Erwachsenen (erschei-
nen) als unendlich verschiedenartige und sich selbst tragende, in der Gegenwart beste-
hende Systeme, die aus vorhergehenden Systemen erwachsen, aber von ihnen funktio-
nell unabhängig sind".

265
 
Annotationen