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Belvedere: Monatsschrift für Sammler und Kunstfreunde — 3.1923

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Gronau, Georg: Dürer und Michelangelo
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https://doi.org/10.11588/diglit.52317#0009

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DURER UND MICHELANGELO
GEORG GRONAU
Von einem seltsamen Blatt Dürers, der Radierung, welcher Bartsch den
Verlegenheitstitel „Der Verzweifelnde“ (B. 70) gegeben hat (Tafel 1), ist
in der reichen neueren Dürer-Literatur nur wenig die Rode. Indem
die verschiedenen darauf sichtbaren Gestalten, zusammenhanglos, sich der
Deutung widersetzen, wird es meist ohne weiteren Kommentar unter der
kleinen Zahl der Radierungen des Meisters aufgeführt und wohl mit Recht
als sein erster Versuch in dieser ihm neuen Technik angesehen. Was Dürer
hier der Fixierung auf die Kupferplatte wert erachtet hat, war gewiß nichts
als ein Studienblatt: als Unikum in seinem graphischen Werk darum nicht
ohne Interesse.
Im Mittelpunkt des Blattes stellt sich dem Beschauer die Gestalt eines kauern-
den nackten Jünglings dar; sie hat dem Blatt den Namen, den es in der
Fachliteratur führt, verschafft. Eine Gestalt, die, in der damaligen deutschen
Kunst vereinzelt dastehend, einige Beachtung fordert. Dürer hat darin ein
rein plastisches Motiv durchgeführt, alle diejenigen Teile des Körpers,
an denen sich die Bewegung vollzieht, betont und hervorgehoben. Ein be-
merkenswertes Schwanken der Hauptrichtung findet statt; wenn man glaubt,
daß die stärkste Bewegung des Körpers sich nach links herüber vollzieht,
so beobachtet man zugleich, daß andere nicht minder wesentliche Teile
nach der rechten Seite hin gerichtet sind. Fast gewaltsam greift der
rechte Arm, zwischen Knie und Brustkasten eingeklemmt, zu dem tief ge-
gesenkten Haupt herauf, und kaum weniger heftig ist der andere Arm hoch
emporgereckt, um von oben her die Hand in das Lockenhaar greifen zu
lassen.
Eine Figur, die innerhalb der nordischen Kunst völlig unverständlich bleibt.
Es wird nicht anders möglich sein, als daß man sich nach einer äußeren
Anregung urjisieht, die Dürer irgendwie erreicht haben mag; daß sie nur
vom Süden her und aus dem Ideenkreis eines Plastikers herstammen kann,
ist zu offenkundig, als daß es eines Beweises bedürfte. Diese Beobachtung,
die ich vor langer Zeit gemacht hatte, ohne an ihre Veröffentlichung zu
denken, ist schon viel früher mitgeteilt, aber nicht verfolgt worden. Bereits
Thausing1 bemerkt, daß dieser Akt „noch von der italienischen Reise stammen
müsse“; die völligen Glieder deuteten auf ein italienisches Modell, und die
entgegengesetzte Bewegung erinnert „nur zu sehr“ an den Contraposto des
älteren Sansovino und Michelangelos. In einer Anmerkung teilt Thausing
dann eine Beobachtung Lützows mit, der ihn auf die Ähnlichkeit der Figur
mit dem Cupido in London (Tafel 2) aufmerksam gemacht hat.
1 „Dürer“ II, S. 66 und 67.

Belvedere III/7 u. S

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