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Beft 1.

Das: BuhH fFür Alle

A

23



ſchließlich in den Händen der Einheimiſchen und der Chineſen,
die einen ſtarken Beſtandteil der bürgerlichen Bevölkerung
bilden. Sie zählen etwa 8000 Nöpfe; dazu kommen noch
Japaner und Koreaner, Oſtſibirier aller Stämme, angeſiedelte
Kofaken aus Südrußland, Ruſſen aus den verſchiedenſten
Landesteilen, kurz, das Völkergemiſch auf dem Markte iſt
ebenſo mannigfaltig als intevejjant. Außer den großen
Schiffen der eüropäiſchen Nationen ſieht man im Hafen zahl-
reiche chineſiſche Sampans, aber im Straßenverkehr ſind die
ſonſt in Oſtafien allgemein üblichen Jinrikſchas und Trag-


ſchen Fuhrwerk verdrängt worden. Die größten und hervor-
ſtechendſten Gebäude und Anlagen gehören naturgemäß der
Marine an. Dieſe beſitzt jetzt ſogar ein mächtiges Trocken-
dock zur Aufnahme der groͤßten Banzerfchiffe, ferner zwei
Schwinimdocks, ſowie große Reparaturwerkſtatten und Werk-
ſtätten zum Bau von Torpedobooten! Ueberall iſt Ordnung
und Rührigkeit, und man erhält den Eindruch daß Wladi-
woſtok eine bedeutende Zukunft hat. Ein ſchwerer Nachteil
für das Aufblühen des Hafens ſind allein die Witterungs-
verhältnifje. Während des Januars und Februars wird der
Schiffsverkehr durch das Eis unmöglich gemacht, doch hofft
man, der neue Eisbrecher Stadeſchny eine der gewaltigſten
Maſchinen dieſer Art, werde künftighin im ſtande ſein, auch
im ſtärkſten Winter eine Fahrrinne offen zu halten.

Großes Malheur.

(Siehe das Bild auf Seite 27,)

14 man nur Hermann Kaulbachs ſchwermütiges Ge-
möälde „An der Grabſtätte des Freundes in der Nün-
chener Neuen Pinakothek oder ſeine figurenreichen hiſtoriſchen
Genrebilder kennt, ſo ſollte man es kaum für möglich halten,
daß der Sohn Wilhelms v. Kaulbach auch naive Bilder aus
dem alltäglichen Leben ſchaffen fönne. Und dennoch vermag
er auch das, wofür ſein Gemälde „Sroßes Malheur! (ſiehe
den Holzſchnitt auf S, 27) einen Beleg liefert. Der Seppl
iſt ein kräftiger, geſunder Bub, und daß die nicht ſo zimper-
lich und artig ſein fönnen, wie Mädchen, das weiß jeder.
Auch Seppls Mutter möchte beileibe nicht, daß er ein Kopf-
hänger und Duckmäuſer wäre, andererſeits aber kann ſie doch
auch nicht damit einverſtanden ſein, wenn er ihr beinahe
ein um den anderen Tag mit Löchern in Wams, Hoſe oder
Strümpfen aus der Schule oder vom Spiel heimkommt.
Sie hat das dem Vater geklagt, und dieſer daraufhin ſeinem
Sohne im Wiederholungsfalle mit bezeichnender Handbewe-
gung eine derbe Strafe in Ausſicht geftellt. Der Vater pflegt
nicht zu ſpaßen, und Seppl hat ſich ſehr vorgenommen, recht
bedachtſam und vorſichtig zu ſein, damit nichts paſſiere.
Heute aber iſt es beim Räuber- und Gendarmenſpiel wieder
einmal recht heiß hergegangen, und im Eifer hat Seppl die
ſich ſelber angelobte Vorſicht dennoch außer acht gelaffen.
Das Ergebnis iſt ein großes Malheur!, ein gewaͤltiger Niß
im Strunipf, wodurch die Ausſicht auf das väterliche Straf-
gericht unheimlich nahe gerückt wird. Doch des Nachbars
Marie, der er ſein Leid klagt, erweiſt ſich als Helferin und
Retterin. Gutherzig vergißt ſte ſo manchen Schabernack, den
ihr der Seppl ſchon geſpielt hat, und macht ſich, wie uns
das Bild zeigt, ſogleich mit Nadel und Faden ans Werk der
Ausbeſſerung, wobei e& nicht an teilnehmenden Zuſchauern
fehlt. Köſtlich iſt die vor dem Knirps mit dem abgebrochenen
Schaukelpferd im Arın auf einem Schemel ſitzende Kleine;
ſie freut ſich ſchon auf den Moment, Da ſie, wenn Marie
fertig iſt, mit der bereitgehaltenen Schere den Faden durch-
ſchneiden darf.

Hönnen wit richlig ſehen und joͤren?

Eine Wahnung an jedermann.

Von

A, VBexthold.

Gachdruck verboten.)

A enn man jemand, der über gefunde Sinne
_}- vyerfügt, fragen wollte: „Können Sie richtig
; ſehen und hören?“ fo mürde er ficherlich
entrüftet antmorten: „Selb{tverftändlich! Ich
bin doch nicht blind und nicht taub!“

Das Erſtaunen und vielleicht die Entrüſtung werden
dann aber noch ſteigen, wenn man weiter fragt? Haben
Sie denn ſehen und hören gelernt?“

Wird man dann überhaupt noch einer Antwort ge-
würdigt, ſo lautet dieſe jedenfalls: „Daz braucht man
doch nicht zu lernen, das iſt ja jedem Menſchen an-
geboren !“




ein ſehr großer Irrtum, und leicht kann man den Ge-
fragten überzeugen, daß er ſich irrt.

Wenn der Gefragte ein Städter iſt, der ſelten aus
den Mauern der Großſtadt herauskommt, ſo braucht
man ihn nur durch einen gutbeſtandenen Wald zu
führen und ihn zu fragen, ob er dies und jenes ſehe.
Er wird ſich dann bald überzeugen, daß er im dichten
Walde ſehr wenig und das Wenige noch undeutlich
wahrnimmt. Zwiſchen den Gegenſtand, den er ſehen
ſoll drängen ſich andere Gegenſtände, Bäume, Sträucher,
Zweige, auch herrſcht im Walde eine ganz andere Be-






wegt ſich der „Prüfling“, wie wir den Mann nennen
wollen, bei der Beobachtung im Walde weiter fort, ſo
ſieht er zu ſeiner Rechten und Linken und ebenſo vor
ſich die Bäume ſich immer anders gruppieren. Das
Bild, das er betrachtet, verſchiebt ſich foxtwährend, und
ſchließlich hat er das Gefühl daß die Bäume um ihn
herumtanzen!! Er wird ſo verwirrt, ſo unſicher,
daß er Gegenſtände, Menſchen, große Tiere auf kurze


Dinge zu gewahren, die in Wirklichkeit nicht da ſind.
Sr iſt den ſchwerſten Irrtümern ausgeſetzt, weil ſeine
Sicherheit im Sehen vollſtändig geſchwunden ift.
Warum das aͤlles? Der Pruͤfling hat eben keine
Nebung im Sehen, wie ſie für die eigenartigen Ver-


Nun wollen mir den Prüfling der aus der Groß-
ſtadt ſtammt, in die weite freie Ebene hinausführen,
etwa in die Lüneburger Heide oder in die Tiefebene,
die ſich vom Fuße der Karpathen an der Oder entlang


zeugen, daß er ſelbſt mit Hilfe eines guten Krimſtechers
auf größere Entfernungen nicht gewahrt, was der Land-
mann aus dieſer Ebene, der Jäger, der Gendarm, der
Grenzaufſeher u. f. m. mit größter Deutlichkeit ohne
jedes Glas ſehen Dort, wo der Großſtädter nur einen
fich bewegenden Punkt wahrnimmt, erkennt der Mann
aus der Ebene auf das deutlichſte eine Perſon und
kann beſtimmen, ob ſie männliche oder weibliche Klei-
dung trägt, ob ſie raſch oder langſam geht, ob fie eine
Laſt trägt oder nicht. Gegenüber dieſer Leiſtungsfähig-
keit verſagt das Auge des Großſtädters vollſtändig,
weil ihm eben die Uebung fehlt. Würde ſich der Groß-
ſtädter nur genügend laͤnge in der Ebene aufhalten,
dann könnte jich, wenn auch vielleicht erſt nach Jahren,
ſein Auge durch die Uebung ſo in ſeinem inneren
Bau umformen und eine ſolchẽ Fertigkeit erreichen, daß
er dann genau ſo ſcharf ſieht, wie der in der Ebene
geborene und aufgewachſene Bewohner.

Verſetzen wir andrerſeits nun einmal einen Menſchen,
der bisher auf dem Lande lebte und dort vortrefflich auf
weite Entfernungen ſah, in den Trubel einer großſtädti-
ſchen Straße. Hier ſieht er plötzlich ſehr ungenau; er
iſt zum Beiſpiel nicht im ſtande, eine Perſon mit den
Augen zu verfolgen, die ſich durch das Gewühl der
Straße hindurchbewegt. Er verliert dieſe Perſon immer-
fort aus den Augen. Er iſt auch nicht fähig, aus
der Fülle von Einzelheiten, die ſich ſeinem Auge hier
aufdrängen, etwas Beſtimmtes genau zu beobachten.
Es fehll ihm eben die Nebung, gerade diejenigen Ein-
drücke aufzunehmen, die er braucht und die er ſehen
Hat dieſer Mann aher genügend lange Zeit
in der Großſtadt gelebt, ſo ſieht er ebenſo ſicher und
genau, beobachtet ev im tollſten Trubel ebenſo ſcharf,
wie jeder in der Großſtadt Aufgewachſene. ;

Wir erlennen alſo daraus: das „Sehen“ ift ab-
hängig von dem Aufenthaltsorte eines Menſchen und
von der Uebung, die er für den betreffenden Aufent-
haltsort ſich angeeignet hat. Die Menſchen in der
Großſtadt, im Gebirge, an der Seeküſte, in der Ebene,
im Walde u. |. w. eignen ſich ganz verſchiedene Fähig-
keiten an, zu ſehen, und unzweifelhaft wird ein Menſch,


hielt, ſondern längere Zeit bald an der See, im Wald,
bald im Gebirge und dann in der Großſtadt gelebt
hat, im Sehen eine größere Uebung hHaben. Er wird
auch leiſtungsfähiger im Sehen unter verſchiedenen Ver-
hältniſſen ſein, als der Menſch, der zeitlebens auf der-
ſelben Scholle geblieben i{ft. —

Wir begegnen auf der Straße einem guten Be-
kannten! Er geht dicht an uns vorüber, ſieht uns aber
nicht. Warum? Cr ſieht gewohnheitsmäßig
ſehr ſchlecht und iſt im ſtande, auf der Straße ſeine
nächſten Angehörigen über den Haufen zu rennen, ohne
ſie zu erkennen. Dabei ift er nicht etwa kurzſichtig,
nein, er hat ganz geſunde und gute Augen, aber er
hat eben nicht ſehen gelernt. Cr iſt nicht geübt,
die Eindrücke, die durch die Netzhaut des Augẽs feinem
Gehirn übermittelt werden, im Gehirn in Denkthätig-
keit umzugeſtalten.! Einem ſolchen Menſchen können
wir nun leicht einen anderen gegenüberſtellen, der nicht
nur ſehr genau ſieht, ſondern der auch alle Kleinig-
keiten wahrnimmt, der es beiſpielsweiſe ſofort entdeckt,
wenn auf dem Wege, den er täglich geht, an einem
Hauſe ein kleines Schild an unauffälliger Stelle neu
angebracht worden iſt! Sogar an Orten, wo er noch
nie vorher war, pflegt er ſich mit wenigen Blicken
nicht nur über die allgemeine Lage zu orientieren, ſon-
dern — ſozuſagen auf den erſten Blick — auch eine
Menge von Kleinigkeiten wahrzunehmen und ſich ein-
Ein ſolcher Menſch beſitzt eben Nebung
im Sehen, er hat ſehen gelernt.

Wo wird denn nun aber das Sehen gelehrt?

Die Antwort iſt recht betrübend. Man bekommt
nirgendwo Unterricht darin, ſondern muß es von ſelbſt
lernen.! Eben deshalb iſt der Erfolg bei maͤnchen
Menſchen auch ſe mangelhaft, daß ſie troß ihrer offenen




Vernünftigerweiſe müßten die Kinder bereits in der
Schule fhſtematiſch im Sehen und Hören ausgebildet
werden, das geſchieht aber nicht. Auch in der Schule
nimmt man eben leider an, daß jeder Menſch von
ſelbſt ſehen lernt. Das iſt aber keineswegs der Fall.

Der menſchliche Körper iſt mit äußerſt wunderbaren
Apparaten ausgeſtattet, allein dieſe funktionieren nur
gut durch Uebung. Und zwar bedürfen dieſe Apparate
einer doppelten Nebung.

Betrachten mir irgend eine Muskelgruppe des menſch⸗—
lichen Körpers, zum Beiſpiel die Beinmuskeln Jeder-
mann weiß, daß man durch beſondere Uebung ſeine
Muskeln außerordentlich kräftigen kann, ebenſo wie
ja durch mangelnde Anwendung und Uebung ein Muskel
immer ſchwaͤcher wird, um ſchließlich ganz zu degene-
rieren. Nehmen wir an, die Beinmuskeln ſeien alſo
durch die erſte Art der Nebung ſehr groß und kräftig
geworden. Will ich nun aber mit dieſen ſtarken Muskeln
einen beſonders hohen Sprung ausführen, ſo geht das
nicht ohne weiteres an. Ich bedarf vielmehr erſt einer
zweiten allmählichen Uebung für dieſen Sprung, zu
dem die ſchon geübten Muskeln verwendet werden
ſollen € handelt ſich alſo erſtens um Kräftigung
und Stärkung, zweitens um Anwendung der in ſoͤlcher
Weiſe gekräftigten Muskeln. ;

Auge und Ohr des Menſchen enthalten ja auch
Muskeln, in ihrer Zuſammenſetzung ſind ſie jedöch nicht
allein Mußkeln, ſondern außerordentlich feine und Iom-
plizierte Apparate. Das Auge! eine photographiſche
Kamera; das Ohr: ein Mikrophon. Aber auch dieſe
Apparate bringt man zur höchſten Leiftungsfähigkeit
nur durch doppelte Mebung, indem man. nämlich
ſchon das Kind anleitet, durch Nebung ſcharf zu ſehen
und zu hören, zweitens aber das Geſehene und Ge-
hörte im SGehirn zu Gedanken zu verarbeiten.

Das blope Hören und Sehen macht es eben nicht,
man muß auch denken dabei, und das lernen ſehr
viele Menſchen nicht genügend, weil ihnen eben keine
Anleitung irgend welcher Art dazu gegeben wird, weder
in der Schule noch in der Familie!

Wer Soldat geweſen iſt, weiß, wie verſchiedenartig
die jungen, faſt gleichalterigen und durchweg auch gleich
geſunden Leute, die in das Heer eintreten, im Sehen
und Hören ausgebildet find. E3 giebt Leute, die als
Patrouille und Poſten gar nicht zu verwenden ſind,
weil ſie mit offenen Augen nichts ſehen. Das heißt,
ſie ſehen wohl im gewoͤhnlichen Sinne des Wortes,
denn ſie ſind ja nicht blind, aber ihr Hirn iſt voll-
ſtändig ungelibt, das Geſehene in Gedaͤnken umzu-
wandeln. Genau wie mit dem Sehen geht es ihnen
mit dem Hören. Andere junge Soldaten dagegen ſind
vortrefflich auf Sehen und Hören geſchult und gelten
deshalb als aufgeweckte Leute?

Ohne Zweifel würden faſt alle, die jetzt als Dumm-
föpfe und Träumer gelten und wirklich in krauriger
Weiſe herumdoſen! ohne Auge und Ohr entſprechend
gebrauchen zu können, ebenfallz aufgeweckte Menſchen
zeworden ſein, wenn man ihnen nur Anleitung im
Sehen und Hören gegeben hHätte, Aber niemand il
es eingefallen, daran zu denken, daß das bei vielen


eben ſich ſelbſt überlaſſen, und es iſt wirklich nur ein
Bufall, wenn dieſes Individuum trotz der Vernachläſſi-
ſeine Sinneswerkzeuge richtig und gut gebrauchen
ernt.

Man giebt ſich beim Militär die größte Mühe, die
Leute im richtigen Sehen und Hören zu üben denn
für den Felddienſt! für einen Krieg iſt das von außer-
ordentlicher Wichtigkeit. Durch die Unachtſamkeit eines
einzigen Poſtens fann das größte Unglück verurſacht
werden; umgelehrt kann ein aufmerkſamer Poſten, ein
einziger Mann, großes Unheil verhüten. Die Erfolge
aber, die man heim Militär mit ſolchen Uebungen er-
reicht, ſind verhältnismäßig gering, und zwar deshalb,
weil die Leute nicht mehr jung genug find. Sie fehen
bereits gewohnheitsmäßig Ihlecht und hören ge-
wohnheitsmäßig ſchlecht und ſind von dieſer Ge-
wohnheit ſchwer abzubringen, denn ſie iſt bereits zu
tief eingewurzelt. Die Haußtſaͤche iſt eben, daß die üble
Gewohnheit überhaupt nicht entſteht, und das kann nur
in der Schule durch ſyſtematiſchen Unterricht im Sehen
und Hören erreicht werden.

Es ſoll damit keineswegs der Schule und den Lehrern
eine neue Laſt aufgebürdet merden. Kinder, die richtig
Sehen und Hören gelernt haben, lernen auch im übrigen
viel beſſer und raſcher als Kinder, die ſtumpf im Sehen
und Hören find. Die Mühe, die man ſich zuerſt mit
dem Unterricht im Sehen und Hören giebt, belohnt
ſich ſomit reichlich während der gaͤnzen ferneren Schul-
zeit. Und man wird ſicherlich noch dazu kommen, einen
folchen Unterricht einzuführen, ebenſo wie man bereits
längſt eingeſehen hat, daß in der Schule auch der
Körper ausgebildet werden muß, und zu dieſem Zweck
das Turnen einführte. Es muß dem Staate ja ſchon
im allgemeinen daran liegen, nicht ſtumpfſinnige, ſon-
dern aufgeweckte und intelligente Bürger zu hHaben; es
handelt ſich aber außerdem um unſere Wehrkraft und
vor alleim, wie wir nachher zeigen werden, um unſere

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