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*434

Das BuhH für AlTe

. Soeft 6.



Jungfer, ganz entſetzt über das Ausſehen der Kleinen.

G mar aus der Kranken kein vernünftiges Wort
mehr herauszubringen. Sie ſchrie unausgeſetzt, bis
ſie heiſer ward; dann erlahmten ihre Kräfte, und
es drang nur noch ein keuchendes, pfeifendes Röcheln
aus ihrem Munde.

Marianne war die erſte, die trotz des furchtbaren
Eindrucks ihre Beſinnung wiedererlangte. Mit Klagen
und Fragen war hier nichts auszurichten.

Gaſton,“ ſtieß ſie atemlos hervor, „ſetzen Sie ſich
ſofort in den Sattel und reiten Sie in die Stadt.
Wenn Sie Doktor Werner antreffen, ſo überlaſſen Sie
ihm Ihr Reitpferd — je ſchneller er hier iſt, deſto
dankbaler bin ich ihm. Sagen Sie ihm: inſtändig
bäte ich ihn...”

Doktör Werner wird aber nach St. Georges ge-
fahren fein,“ fiel der Diener verzweifelt ein. „Der
Knecht vom Pfarrhof ſoll bei der Ueberſchwemmung
heute nacht verunglückt ſein, als er das Vieh aus dem
Stall treiben wollte, Ein Stier habe ihn angeſpießt,
hHört’ ih; es mar doch heute naͤchmittag einer vom
Dorfe hier, der unſeren Herrn holen mollte. Ich ſagte
ihm noch ſelbſt, daß er zu Herrn Doktor Werner gehen
Jolle, weil doch Doktor Bluntſchli, der unſeren Herrn
im Frühjahr vertreten hat, zur Erholung verreiſt iſt.“

Marianne preßte angſtvöll die Hände ineinander,
denn ſoeben begann das jamniervolle Schreien der
Kleinen mwieder. „Gehen Sie nur, gehen Sie nur
— jede Sekunde Zögern kann Gefahr bringen oder
die Gefahr vergrößern! Wenn man doch nicht weiß,
um was e8 ſich handelt ...“

Zas ſind Krämpfe !” ſagte nun auch der Diener
ganz überzeugt. „Zmweifellos, Frau Doktor!” Eilends
machte er ſich auf den Weg nach dem Stall, um dem
Befehl ſeiner Herrin nachzukommen.


handeln hörte, ſprang ſie ans Fenſter-

Gaſton! rief fie in höchſter Erregung. „Und

wenn Sie Herrn Doktor Werner nicht in Siders an-

treffen, ſo reiten Sie gleich weiter zu irgend einem
anderen! Oder ſuchen Sie in Erfahrung zu bringen,
wo mein Mann weilt Schicken Sie nach allen Seiten
Boten von der Stadt aus, der Kutſcher ſoll ſich
gleichfalls auf die Suche machen. Und telephonieren,
lelegraphieren Sie !”

„Die Leitung iſt aber doch geſtört, gnädige Frau.
Seit halb ſechs Uhr ijt der Betrieb geſchloſſen, der
Briefträger ſagte mir's vorhin.“ }

„Mein Sott, was thun, was thun? Schaffen
Sie einen Arzt, einen Arzt!” flehte Marianne.
„Bis mein Mann zurückkehrt, kann vielleicht ſchon viel
verſäumt fein.“

„Gewiß iſt unſer Herr noch nach Madras gefahren.
Ich glaube geſtern gehört zu haben, daß Frau Lugenz
ihn zu ſich bat.“

„Eilen Sie! Eilen Sie! Schicken Sie alſo auch
nach Madras — für alle Fälle! Und nach Tomagnon!
Aber einen Arzt müſſen wir haben — und raſch!!

Mit der Kranken war inzwiſchen eine ganz ſeltſame
Veränderung vor ſich gegangen. Ihre Züge waren
leblos, wie erſtarrt, den ganzen Köyper aber überlief
ein Zittern, dabei ſchienen ſich die Muskeln ihrer
mageren Aermchen zuſammenzuziehen, die Hände krümm-
ten ſich im rechten Winkel zu den Gelenken.

Maͤrianne befühlte die Stirn des Kindes. Eigent-
liches Fieber war nicht vorhanden; aber auf der Haut
ſtand kalter Schweiß, vermutlich von dem Schreien
und dem Hinundherwerfen Ueber die jähe Verände-
rung des Pulſes erſchrak Marianne am meiſten. Sie

* nur etwa ſechzig Schläge in der Minute zu
zählen. :

Die Jungfer irrte ratlos hin und her und machte
allerlei unausführbare Vorſchläge! Dann begann ſie
mit Fragen. Ob man der Kleinen noch einmal Medizin
geben ſolle, meinte fie.

Marianne, die vor Aufregung und Angſt nur müh-
ſam ſich zum Sprechen zwingen konnte, ſchüttelte den
Kopf. „Sie hat die Medizin dreimal am Tage be-


ſich noch auf dem Tiſch neben der Lampe befand.
Vor einer halben Stunde zum letztenmal. Ich habe
aͤlles ausgeführt, wie es mein Gatte angeordnet hat.
Sie wiſſen ja ſelbſt: ich bin während des ganzen Tages
kaum zwei Minuten lang von ihrem Bett fortgeweſen.
Es iſt alſo ganz ausgeſchloſſen, daß irgend etwas ver-
ſehen ſein fönnte!“ Sie preßte die Stirn in die Hände.
„Wenn ich ihr noch erlaubt hätte aufzuſtehen — was
für quälende Vorwürfe würde ich mir jetzt ſelbſt machen
müſſen! Aber auch ſo treibt e& mich zur Verzweif-
lung! Was iſt es nur, was hat es zu bedeuten,
woher ſtammt es, dieſes neue, unheimliche Leiden?!“

Eine furchtbare Zeit des Haxrens begann. Gaſton
kehrte nicht zurück, auch kein Arzt ließ ſich blicken.
Dabei nahmen die Anfälle von einer Stunde zur an-
deren an Heftigkeit zu.

Eine Verſtaͤndigung mit dem Kind mar ausge-
ſchloſſen. Um neun Uhr etwa — alſo nach faſt zwei-




ſtündigem Ringen — verlor es das Bewußtſein Von
Da an nahmen die Kräfte der Patientin unheimlich
ſchnell ab.. Das Schreien erſtarb _ in Wimmern und
Stöhnen. Fieber vermochte Marianne noch immer
nicht feſtzuſtellen, im Gegenteil, der Puls ſank bis auf
vierzig Schläge.

Bald nach zehn Uhr ertönten im Veſtibule Schritte.


lager Fridas neben der gleichfalls ganz verzweifelten
Juͤngfer ausharrte, ſtürzte dem Ankömmiling entgegen.

Es mar Stephans Mutter.-

Marianne haͤtte alle Kränkungen, die ihr die harte.
alte Frau angethan, vergejjen. Die Schrecken dieſer
Stunde dränaten alles Perſönliche in den Hintergrund.
Wie eine Erlöſung erſchien ihr’8, daß endlih dieſe
grauenvolle Einfamfeit zu Ende ging. Laut auf-
ſchluchzend eilte ſie auf die Mutter ihres Gatten zu,
haltlos, unfähig, ein Wort hervorzubringen! Mit aus-
gebreiteten AUımen wollte ſie ſich an die Bruſt der
alten Frau werfen, um ſich dort auszuweinen.
Aber kalt entzog ſich Frau Lugenz ihrer Annähe-
rung. Sie verſchräukte die Arme auf dem Rücken und
wich düſteren Blickes vor ihr zurück,

„Was iſt dem Kind geſchehen?“ kam es forſchend
von ihren ſchmalen Lippen.

Gaͤnz verſtört ſtarrte Marianne ihre Schwieger-
mutter an. Ihr Herz ſetzte zu ſchlagen aus, als ſie
den kalten, drohenden Blick von Stephäns Mutter ſah.

„Ich — — weiß es nicht!“ ſtammelte ſie. „Ein
Verhaͤngnis iſt es — ein furchtbares Verhängnis!“

Aug in Aug ſtanden ſie ein paar Sekunden lang
einander gegenüber.

Frau Lugenz erwiderte nichts. Aber Marianne war
e8, als könne ſie von ihren Zügen einen ſchrecklichen
Vorwurf lefen, Das Herz der jungen Frau krampfte
ſich in namenloſem Schmerz zuſammen! Sie wollte
reden, aber ihre Zunge verſagte den Dienſt. Grauen
erfaßte ſie vor der hHarten, eiſigen Miene von Stephans
Mutter.

Humpelnd haͤtte ſich Frau Lugenz, auf ihren Krück-
ſtock geſtützt, ins Kranfenzimmer begeben. Betty lag
auf den Knieen vor dem Bett und gab der armen
Kleinen, deren Geſicht ſich bläulich gefärbt hatte, die
zärtlichſten Namen.

Die von Groll und Eiferſucht irregeleitete alte Frau
ſchien angeſichts des jammervollen Bildes denn doch
voͤn einer tiefen Erſchütterung erfaßt zu werden Sie
preßte die Lippen feſt aufeinander, atmete raſch und
ſchwer und taſtete nach dem Tiſch, an deſſen Kante ſie
ſich feſthielt

Abet dann rang es ſich aus ihrer Bruſt in heiſerem,
trotzigem Ton lo8: „Hätten ſie mich nicht von dir ge-


e8 jeßt beſſer um Dih!“
„Mutter!“ ſchrie Marianne entſetzt auf Sie ver-
gaß in dieſer Stunde, daß man ſich im Zimmer einer


verſteckte Anklage, die die harte Frau da gegen ſie.
ſchleuderte.

Doch ſofort kam ſie wieder zur Beſinnung Sie
eilte zu dem Kinde, umſchlang den matten, zuͤckenden
Körper und ſtammelte ſchluchzend: „Nein, nein, mein
unglücklicher, kleiner Liebling, wir ſind Freunde,
nicht wahr? Niemand vermag uns jetzt mehr zu krennen!
Wir haben uns in Liebe gefunden, nicht wahr? Deine
Maminka hat dir’s an nichts fehlen laſſen! ... Ach
ſprich doch, du Liebe, Arme Gute.“

Von der Erregung überwältigt brach ſie in herz-
bewegendes Schluchzen aus.

Es war Betty, als ob plötzlich ein matter Strahl
freudigen Erkennens dem ſtarren Geſichtchen wieder
Leben verlieh „Sehen Sie nur, ſehen Sie nur, Frau
Doktor, ſie lächelt Ihnen zu! Wahrhaftig!“

Doch vaſch erloſch der Glanz wieder, die irren-
den, ſchon halb gebrochenen Augen ſchloſſen ſich.

„Barmherziger Golt im Himmel,“ betete Marianne
in ihrer Seelenangſt, „laß ſie nicht ſterben!“

Noch einmal machten die dünnen, krampfhaft ge-
krümmten Aermchen ein paar zuckende Bewegungen —
darauf ging ein Zittern über den ſchlanken Leib —
ein letztes, röchelndes Stöhnen — und dann ſtand der
Organismus ſtill.

Kein Pulsſchlag mehr, kein Atmen, kein Heben und
Senken der kleinen Bruſt.

Frida war tot.

Betty wich furchtſam zurück, Frau Lugenz Platz
machend, die ſich ans Bett drängte, um dem Kinde
haſtig die Augen zu Sffnen. Leblos ſtarrten ſie ins
Veere. Von einem Schauer überrieſelt ſchloß ſie die
Lider der Toten wieder.

„Es iſt vorbei!“ ſagte ſie darauf dumpf.

Marianne hielt noch immer, auf den Knieen liegend,
ihre Hände wie im Gebet zum Himmel. Jetzt durch-
zitterte ſie ein eiſiges Kaältegefühl,. ]ie taftete um
ſich und ſchlug haltlos mit dem Kopf auf den Boden.
Nur ein einziger wimmernder Laut kam dabei von
ihren Lippen.

Die Jungfer bemühte ſich ſofort ſehr beſorgt um




ihre Herrin, ſprach ihr in flehendem Tone zu. Allein
Marianne vermochte ſich nicht zu rühren. Alle Kräfte
zuſammennehmend gelang es Betty endlich, die Ohn-
mächtige vom Teppich aufzuheben. Sie verſuchte He
ins Nebenzimmer zu geleiten, aber immer wieder
wandelte die zu Tod erſchöpfte junge Frau eine er-
neute Schwäche an. Unter Innehaltung mehrerer
Stationen gelangte Marianne ſo endlich bis in ihr
Dort brach ſie abermals zuſammen.

„Tot! Tot!“ ſtammelte ſie fortgeſetzt, wie in
geiſtiger Verwirrung. „Es iſt unmöglich, es kann
nicht ſein! Heilige Vorſehung, erbarme dich!“ —

Als Betty ins Sterbegemach zurückgelangte, fand
ſie die alte Frau Lugenz damit beſchäftigt, die Um-


verſehen.! Sie rückte den Tiſch weiter vom Bett ab,
holte Kandelaber mit Kerzen, Blumen, weiße Tücher,
faltete die erſtarrten Hände der kleinen Leiche und
legte ihr das Kreuz, das Lucie bei ihrer Einſegnung
getragen hatte, auf die Bruſt Gebete murmelnd hielt
ſie dann die Totenwacht.

So verging wiederum eine Viertelſtunde. Man
hörte es von der altertümlichen Uhr der Kirche von
Siders halb Zwölf ſchlagen.

Mitternacht mar nahe, da erſcholl plötzlich von der
Privatſtraße unterhalb des Hauſes, die ſich von Der -
Chauſſee in zwei Serpentinen zum Abhang emporzog,
Pferdegetrappel. ;

Betty waͤr ans Fenſter eines Vorderzimmers geeilt.

Frau Lugenz,“ meldete ſie nach einer Weile auf-
geregt an die Thür des Sterbegemachs zurückkehrend,
„eS iſt der Herr Doltor!!

Die alte Frau erhob ſich ſofort, nach ihrem Krück-
ſtock greifend, um ihrem Sohn entgegenzugehen.

„Und die junge Gnädige rührt ſich nicht!“ ſetzte
die Jungfer ängſtlich hinzu. „Ich rief ſie an, aber
ſie liegt da, wiẽ in einer tiefen Ohnmacht.“ ;

„Laſſen Sie fie in Ruh!“ befahl die alte Frau
Lugenz mit rauher Stimme.

Humpelnd gelangte ſie bis zur Hausthür.

Stephan war vom Pferde gefprungen, ohne ſich
darum zu kümmern, ob das erhitzt ſchnaubende Tier
ſtehen blieb oder davonlief. Aengſtlich forſchend ſtarrte.
er der Mutter ins Antlitz. Er hatte nicht die Ueber-
windung, direkt zu fragen — aus Furcht vor der Ant-
wort, die ihm etwa werden fönnte. 2*

„Lucies Kind iſt — — erlöſt!“ kam es da in
furchtbarem Ernſt von ihren ſchmalen, ſtrengen Lippen.

Der unglückliche Vater ſchrie nicht auf, keine Thräne
trat in ſein bleiches, verzerrtes Geſicht. Stumm und
dumpf verharrte er auf der Stelle, unfähig, einen
Laut zu erwidern, oder auch nur einen Schritt vor-
wärts zu thun.

Achtes Kapitel.

Der Kutſcher hatte das Pferd, auf dem der Doktor
gekommen war, eingefangen und nach dem Stall ge-
führt. Dort rieb er es ab und hüllte es in eine Decke
ein. Darauf begab er ſich ins Herrſchaftshaus, um
ſich Weiſungen vom Hausherrn zu erbitten, und erfuhr
nun erſt aus Bettys Munde das tragiſche Ereignis.

Frida war ein ernſtes, verſchloſſenes Kind geweſen-
Sie hatte ſich nicht, wie es ſonſt Kinderart iſt, durch
vertrauliche Mitteilſamkeit das Zutrauen und die Liebe
des Geſindes erworben. Was ihr die Sympathie der
Leute dennoch verſchafft hatte, war eher dem Mitleid
mit ihrer traurigen Vereinſamung entſprungen.

Der Kutfher, ein bejahrter Walliſer, der Frau
Lueie noch als Mädchen in ihrem Elternhaus gekannt
und auch in ihren Dienſten ausgeharrt hatte, als der
junge Doktor Lugenz ſie heiratete, hatte dem verlaſſenen
Kind ſeiner ehemaligen Herrin beſondere Zuneigung
entgegengebracht. Frida hatte ſich manchmal ein wenig
ſchroff gegen ihn gezeigt, wie es auch Frau Lucies
Art geweſen war in dieſem Augenblick aber riß
ihn die Kunde von dem jähen Tod des armen mutter-
loſen Weſens geradezu zu Thränen hin. Betty hielt
den Alten nur mit Mühe zurück, ins Sterbegemach
einzudringen.

„Der Herr iſt drinnen!“ flüſterte ſie warnend.
„Wir dürfen.ihn nicht ftören!... D, es war furcht-
bar, ganz furchtbar, ſage ich Ihnen — der Tod der
Kleinen, die Verzweiflung der jungen Gnädigen —
und nun der Schmerz unſeres armen Herrn !“

Sie lauſchten in der zugigen Vorhalle Aber Stephan
gab ſich keinem lauten Ausbruch des Schmerzes hin.
Was man hier vernahm, kam aus Mariannes Zimmer
— das erſchütternde, quälende Weinen, das ſo matt
und ſo hilflos klang.

Betty ſchlich leife zu der jungen Frau, um ihr in
ihrem Jammer beizuſtehen. Mit naſſen Augen ver-
ließ der Kutſcher das Haus. Cr konnte nicht einmal
erfahren, woͤran die Kleine eigentlich geſtorhen ſei.
So unerwartet war dieſes Ereignis hereingebrochen:
noch heute früh hatte es geheißen, dem Kind gehe es
ganz gut, e& werde am anderen Morgen ſchon wieder
aufitehen und ſpazieren gehen Dürfen; und noch ehe
 
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