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230 ©

Das ZudH fuür Mlle

Heft 10.



am Dritten auf irgend eine Nachricht von Marianne.
Doch es ward Mittag, es ward Abend, ohne daß ſich
ſemaͤnd hier oben hätte blicken laſſen.

Auch der junge Burſche, der Marianne besleitet
hatte, ſchien noch nicht aus Siders zurückgekehrt zu
ſein, ſonſt würde er ſich doch gemeldet haben, oder
44 würde ſeine Mutter ihm Nachricht gebracht
haben.

Aın dritten Tage ſtellte ſich aber nicht einmal die
Botenfrau in der Schutzhütte ein, und Stephan mußte
ſich das Waſſer ſelbſt, am Stock hinkend, herbeiſchleppen.
Cr ſtellte dabei feſt, daß die Heilung des Knochen-
bruches gute Fortſchritte gemacht hatte; auftreten durfte
er mit dem Fuß aber nöch nicht,

Nach einer unruhig verbrachten Nacht harrte er
nun ſchon von Sonhenaufgang an auf irgend eine
Kunde aus dem Thale. Höhel und hoͤher ſtieg Die
Sonne. Er ſpähte mit immer ängitliherem Blick
durchs Fenſter nach jenem Punkt aus, wo er Marianne
am Moͤntagmorgen zum letztenmal geſehen hatte.
Ob ſie heute ſelbſt kommen würde? War es nicht
grauſam von ihr, daß ſie ihn ſo lange hier allein und
ohne Pflege ließ? Es ſtieg ſchon etwas wie geheimer
Groll in ihm auf.
Da endlih rührte ſich's dort unten. Zwei Ge-
ſtalten unterſchied er. Die voranſchreitende mit dem
eigentümlichen Kopfputz der Walliſerinnen, einem runden
Strohhütchen, das mit breitem, oben aufgelockertem
Band ummunden war, unterſchied er als die Boten-
frau. Die dahinter folgende Geſtalt jedoch blieb noch
längere Zeit verdedt. Seine Spannung wucdhs —
insgeheim hoffte er, Marianne würde es ſein. Aber
vergebliche Höffnung: die zweite Geſtalt entpuppte ſich
nur als der Sohn der Botenfrau.
Wenigſtens würde er eine Nachricht von Marianne
vernehmen, ſo ſagte ſich Stephan, vielleicht brachte man
ihm auch ein paar Zeilen von ihr. Er war ja ſchier
ſeeliſch krank vor Einſamkeit und Sehnſucht.
Wie er das träge Marſchtempo der beiden ver-
wünſchte! Sie ſchlichen ja, ſtatt daß ſie liefen! Nun
verſchwanden ſie in dem toten Winkel unterhalb des
Pläteaus. Endlich hörte er ihre Schritte ſich der
Schutzhütte nähern.
Bringt ihr mir Nachricht?! rief er aufgeregt durchs
Fenſter. Kommt herein! Raſch, raſch — und ſprecht.
erzählt! Wie geht's meiner Frau? Wann kommt ſie?
Wann biſt du denn heinigekommen, mein Junge?“
Das Paar war hetreten ſtehen geblieben, furchtſame
Blicke wechſelnd. Eines ſchien das andere bewegen zu
wollen, für ihn zu reden.
Unſchlüſſig hob der Burſche endlich an: „Heim-
— bin ich ja ſchon Dienstag abend von Siders,
aber — L3
„Dienstag abend?“ fiel Stephan empört ein „Und
läſſeſt mich o lange ohne Nachricht?
Donnerstag! Warum kamt du nicht eher, nicht ſo-
gleich herauf?“
Wieder ein ſcheuer Blickwechſel des Paares.
„Herr, mir trauten uns nicht!! ſagte die Walliſerin
endlich. „Wegen — weil wir nicht recht wußten —
— nuͤn, weil die arme junge Frau —“
Seines Leidens nicht achtend ſuhr er aus dem Bett
und hinkte ans Fenſter! Schier durchbohrend traf ſein
Blick die Stammelnde. „Was iſt mit meiner Frau?“
ſtieß er zitternd hervor-

— 30 wollt e& ja gar nicht glauben, als der Jung'
es daheim ausrichtete, aber er hHat’3 bei der heiligen
Jungfrau beſchworen, daß es wahr fei — und ſchließ-
lich, warum ſoͤllt er auch lügen in ſolch einem ſchreck-
lichen Fall?“

„Sprecht, ſprecht! Barmherziger Himmel! Was
iſt mit meiner Frau?“

„Herr,“ nahm der Burſche zitternd auf, „man hat
ſie in Siders — gleich als wir ankamen und über die
Rhonebrücke fuhren, dort beim Brückenhäuschen, wo

der Gendarmeriepoſten ſteht, dort hat man ſie ver-
haftet!“
Zwolftes Kapitel. 5

War es die Wirkung des furchtbaren Schrecks, die
Folge der Entbehrungen, die Erſchöpfung nach der


mächtig zuſamnien, und die entſetzt hinzueilenden Aelpler
mußten ihn mit vereinten Kräften auf ſein Lager
tragen. Dort lag er lange bewußtlos in einer ſchweren
Ohnmacht.
Das geängſtigte Paar wußte ſich keinen Rat. Er-
leichtert atmeie es auf, als der Kranke ſich endlich
wieder rührte. So matt Stephan ſich fühlte — ſo-
bald er ſeine Beſinnung wieder erlangt hatte, drang
er mit flehentlichen Worten in den jungen Burſchen,

Unterbrochen von vielen erregten Zwiſchenfragen
des Patienten brachte dieſer in ſeinem eigentümlichen
Dialekt nun eine Art Bericht zufammen.

Marianne hatte ſich hiernäch in St. Georges zu-
nächſt aufs Telegraphenamt verfügt, um dort mehrere




Depeſchen aufzugeben-
ein Gefährt guͤfgetrieben, das ſie ohne Aufenthalt nach
Siders brachte. Die Gendarmeriepatrouille ſchien —


Kommen bereits unterrichtet und ihrem Wagen ent-
gegengeſchickt worden zu fein. An der Brücke ritt der
Sergeant an das Gefährt heran und hieß den Kutſcher
anhalten. Nachdem er die Perſoͤnlichkeit der jungen
Frau feſtgeſtellt hatte, erklärte er ſie für verhaftet und
befahl dem Wagenlenker, in ſcharfem Tempo nach dem
Gerichtsgebäude zu fahren. Marianne hatte unterwegs
von dem den Wagen begleitenden Reiter ganz beſtürzt
Auskunft gefordert; der hatte ſich aber auf keinerlei
Erörterungen eingelaſſen.

Auf dem Gericht hatte man die beiden Ankömm-
linge getrennt verhört und dem Burſchen das Bündel
mit den Sachen Leonards abgefordert. Nachdem eine
Unmenge Fragen an ihn gerichtet worden war, von
denen er nur die wenigſten zu beantworten wußte,
hatte man ihn freigelafjen.

Er hatte ſich bis zum Abend in der Nähe des Ge-
richts herumgetrieben, immer in der Erwartung, daß
die junge Frau herauskommen werde; aber als er bei
einbrechender Dunkelheit den Mut faßte, wieder vor-
zuſprechen, hatte ihm der Beamte, der ihn im Vor-
zimmer abfertigte, geſagt, er ſolle ruhig nach Hauſe
zurückkehren. Die Zeit würde ihm zu lang werden,
wenn er auf die Freilaſſung der Frau Doktor hier vor
dem Hauſe warten wolle! Dabei hatte der Beamte
ein boshaftes Lächeln gezeigt, das der geängſtigte Burſche
ſich nicht zu deuten wußte.

Troͤtz der wenig Hoffnung gebenden Auskunft hatte
er die Nacht dann doch noch in Siders zugebracht. Cr
kannte den Knecht eines Weinwirts am Ort, in deſſen
Kammer er Aufnahme fand. Sein Bekannter hatte
früher beim Herrn Präfekten gedient. An den ſolle


wolle, hatte ihm der Knecht geraten; denn der Präfeft
ſei ein freundlicher Herr und werde ihm ſicher bei-
ſtehen in ſeiner Not.


nung aufgemacht. Dort war ihm aber geſagt worden,


aufs Gericht gefahren. Noch einmal wagle er’3 dann,
ſich beim Herrn Richter melden zu laſſen. Und dort
vernahm er nun auch gleich den Grund der Reife des
Präfekten: es handeltẽ ſich um die Verhaftung der
Frau Doktor und um die Verhandlung wegen einer
wichtigen Ausgrabung auf dem Friedhof.
ſei in vergangener Nacht die Frau Doktor Lugenz nach


Schweren Herzens war der Burſche nach ſeinem
Alpendorfe heimgekehrt. Er wagte ſich gar nicht zur
Schutzhütte zurück. Und auch ſeiner Mutter graute
es, dem fremden Herrn mit einer ſolchen Botfchaft
gegenüberzutreten. Schließlich hatte heute früh aber
das Mitleid mit dem hilfloſen Einſamen ſie angefaßt,
und ſo waren ſie denn übereingekommen, gemeinſam
hinaufzugehen. ;

Stephan war ſofort entſchloſſen, nach Siders auf-
zuhrechen, nötigenfalls ſich gleich nach Sitten zu be-
geben, um Klarheit zu ſchaffen und die Unglückliche
au8 ihrer entſetzlichen Lage zu befreien. Was für ein
ſchauerlicher Mißgriff lag hier vor? Mußte die Ver-
haftung Mariannes mit dem Verdacht in Zuſammen-
hang gebracht werden, den Hubert Leonard der Un-
glücklichen dreiſt ins Geſicht zu äußern gewagt hatte?

Blitzartig durchzuckte ihn der Gedanke: wenn Leo-
nard gleichfalls feſtgehalten worden ſein ſollte? Wenn
ſein Fluchtplan bemerkt und vereitelt worden wäre?
Vielleicht mar ſeine Verleumdung Mariannes ein letzter,
vergeblicher Aft der Notwehr gewejen? ... Stephan
wußte ja, daß das ganze Gebäude der Verleumdung
und Niedertracht in ſich zuſammenſtürzen werde, ſobald
er auf dem Plan erſchien, um den wahren Schuldigen
zu entlarven. Daxum galt es raſch hinab zu gelangen,
ſchon um zu verhüten, daß der Schreck und die Ver-
zweiflung Marianne niederwürfen.

Wie entſetzlich war es aber für ihn, daß er noch
immer nicht im ſtande war, ſeinen Fuß zu gebrauchen!
Auf der Stelle hätte er den Marſch nach Sitten an-
treten müſſen, um Marianne keine Minute länger als
nötig in der grauſamen Haft ſchmachten zu laſſen —
und doch war kein Gedanke daran, daß er vor zehn
bis vierzehn Tagen eine ſolche anſtrengende Wanderung
würde ausführen können.

Er beriet ſich mit den beiden Aelplern über die
Möglichkeit eines Transports. Sie ſollten ihm eilends
ein Maultier verſchaffen, das ſeine Laſt zu tragen im
ſtande und an Bergpfade gewöhnt war. Auch Krücken
ſollten ſie ihm beſorgen, denn an den ſteilſten Stellen
war die Beförderung auf einem Maultier ausgeſchloſſen.

Nach Stunden qualvollen Harrens konnte er end-
lich die Schutzhütte verlaſſen. Sein Transport bis zum
Alpendorf hinunter war mit den größten Schwierig-
keiten verfnüpft. Der Schnee war im Tauen begriffen
und beſaß keine Tragfahigkeit mehr. Das Maultier
erlahmte bald von der Anſtrengung, bei jedem Schritt








mußte häufig Raſt machen, und das letzte Ende des
Weges, das ſteil abwärts über Geröll durch den Wald
führte, konnte Stephan nur mit Hilfe dere Krücken zu-
rücklegen.

Es war aber keine Möglichkeit, St. Georges noch
heute zu erreichen. Erſchöpft machte er im Hauſe der
Botenfrau Raſt. Da es ſchon dunkelte, drangen Die -
beiden Leute in ihn, in ihrem Hauſe über Nacht zu
bleiben! Das Maultier verſagte den Dienſt, ein an-
deres war nicht zur Stelle, guf dem abſchüſſigen Steig
aber mit dem kraͤnken Fuß ſich auf Krücken hinab ins
Thal zu mwagen, das hieß geradezu, ſich gefliſſentlich


Stephan ſah endlich ſelbſt die Unmöglichkeit ein.
Er ſtellte feſt daß ein Fieber bei ihm im Anzug war.
Die übermäßige Anſtrengung des Körpers, die unkur-
gemäße Ernährungsweije, zu der ihn die unfreiwillige
Einkerkerung in der Schutzhütte gezwungen hatte —
Er mußte die Gaftfreund-
ſchaft der Leute wenigſtens für die Nacht annehmen.

Am anderen Morgen gewahrte er aber zu ſeinem
nicht geringen Entſetzen, daß ſein Fuß angeſchwollen
war. Er beſaß nicht die Kraft, ſich zu erheben. Trotz-
dem er mutig alle Schmerzen ertragen hätte, war er
nicht im ſtande, das Bein zu rühren. Alſo begann
44 abermalige noch leidensvollere Gefangenſchaft
ür ihn. *

Im Verlauf des zweiten Tages meldete ihm der
Burſche mit verſtörter Miene, daß ſoeben zwei Gen-
darmen durchs Dorf gekommen ſeien, die ſich in der
Schußhütte zu ſchaffen gemacht hätten. Da man ſie
nicht hinaufgehen gefehen habe, müßten ſie noch bei
nachtſchlafender BZeit zum erftenmal durchgekommen
ſein! Stephan ſchickte den Burſchen den Beamten nach.
Er ſolle fie unverzüglich zu ihm führen, er mülfe ſie
ausfragen; dieſe Ungewißheit über das Schickſal feiner
Frau bringe ihn um den Verſtand. *

Der Bürſche kam aber erſt nach mehreren Stunden
von ſeinem Gang zurüd. Im Dorf herrſchte ein ſelt-
ſames Gerücht, das ihn peranlaßt hatte, vorſichtiger
vorzugehen, als der Doktor ihm aufgetragen hatte.
Er war den Gendarmen bis nach St Georges hinunter
ins Wirtshaus gefolgt und dort hatte er den Reden
der Beamten mit dem Wirt entnommen daß jenes
Gerücht nicht aus der Luft gegriffen war: die Gen-
darmen hatten den Auftrag gehabt, auf den Doktor
Lugenz, der ſich bisher in der Schutzhütte verſteckt ge-
halten habe, zu fahnden, ihn feſtzunehmen und nach
Siders abzuführen.

Nun duldete es den verzweifelnden Mann nicht
länger auf dem Lager. Und wenn ſein Lehen davon
abhing: er mußte fort, mußte Klarheit ſchaffen!

Unter Fackelbeleuchtung durch Dorfbewohner fand
Streckenweiſe mußte ſich Stephan
tragen laſſen. Ein Wagen war in St. Georges ſchon
vorausbeſtellt. Auf einer Schütte Stroh liegend, not-
dürftig gegen das Rütteln und Schütteln geſchützt! über-
ſtand Stephan die Fahrt, wenn auch unter großen
Schmerzen. - } \

In Siders angekommen, ließ er ſich nach ſeinem
Haufe fahren. Die Fenſter waren erleuchtet. Klopfen-
den Herzens ſah er empor. Kaum hatte der Wagen
gehalten, als auch ſchon ein grauhaariger Herr mit
allen Zeichen der Angſt, Hoffnung und Verzweiflung
aus der Hausthür herausſtürmte und zitternd fragte,
wer der Ankömmling ſei.


Aufgehen der Hausthür hatte er im erleuchteten Haus-
flur Koffer und Reifekörbe ſtehen ſehen Fetzt erſchien
eine ältliche Dame hinter der erſten Geſtalt. Sie
vereinigte ihre ängſtliche Frage mit der des Mannes.
Am Organ, das dem ſeiner Frau auffallend ähnelte,


Eltern. ;

Das war ein trauriges Wiederſehen!

Der Profeſſor war mit ſeiner Frau erſt heute nach-
mittag eingetroffen. Sie hatten ſich länger, als ur-
ſprünglich beablichtigt, in Genf aufgehalten, Tag und
Stunde ihres Cintreffens in Siders aber vorgeſtern
mittels Karte angemeldet. . Bei ihrer Ankunft war
Marianne nicht auf dem Bahnhof gemwejen, und als ſie
ſich endlich zum Hauſe ihres Schwiegerſohnes durch-


maͤdchen, unter Schluchzen und Jammern die nieder-
ſchmetternde Mitteilung: ihre Tochter ſitze im Unter-
ſuchungsgefängnis zu Sitten und heute habe die geitung
eine Notiz gebracht, daß auch auf den Herrn Doktor
gefahndet merde!
Profeſſor Fränkel mar gleich ſeiner Frau wie zer-
ſchmettert. Dann aber raffte er ſich auf und that die
exforderlichen Schritte, um zu erfor]chen, was denn
Wahres an dieſer ungeheuerlichen Botſchaft fei. Sr
begab ſich zum Gemeinderat, zum Maire, zum Prä-
fekten, und um den Richter zu ſprechen, der augen-
blicklich in Sitten weilte, benutzte er den nächſten Zug
zur Faͤhrt nach der Kantonshauͤptſtadt. Dort ward e8 -
ihm dann endlich, auf ſeine ergreifenden Vorſtellungen
 
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