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254

Das Buch für Allen

*

8 11. .



Dieſe Nachricht rief nicht geringes Aufſehen her-
vor. Stephan war ganz verzweifelt, nicht ſelbſt dort-
hin eilen zu können, um ſich Gewißheit zu verſchaffen.
Es koſtete Frau Fränkel und die Pflegerin große Mühe,
ihn zu beſchwichtigen und im Bett zu halten.

Der Profeſſor eilte mit dem Telegramm in der
Hand ſofort zu Meunier. Der zeigte ſich etwas un-
gläubig, ließ dann abex die Gendarmen kommen, die
feiner Zeit die angebliche Abſturzſtelle auf dem Plateau
bei der Schutzhüttẽ beſichtigt und auch hernach die be-

hördliche Abſuͤchung am Schachenſee geleitet hatten, um
deren Urteil zu hören.

Der eine von ihnen, der ſich als Aelpler über die
Unerfahrenheit des Flachländers entrüſtete, fagte zum


— wie foll ſo etwaͤs möglich ſein? Iſt es etwa denk-
bar, daß der Mann, wenn er abgeſtürzt iſt, auf einer
hHöheren Meterzahl gelandet ſein ſollte als die Stelle
betrug, an der er verunglücte? Wiſſen Sie denn nicht,
daß die neue St. Georges-Schubhütte auf der Fee nur
zweitaufendundachtzig Meter hoch lient? Und Almagel
liegt eine Stunde vom Schachenſee entfernt. Nein
mer von jenem Plateau abſtürzt, dem vergeht die Luſt
zu weiteren Gebirgspartien!“

Auch ſein Kollege, der ebenfalls über die Hoch-
gebirgsverhältniſſe jener Gegend gut unterrichtet war,
hielt e& für ausgeſchloſſen, daß der bei Almagel ent-
deckte Leichnam der des vermißten Leonard ſein könne.
Trotzdem erklärte Meunier ſeine Bereitwilligkeit, den
Proͤfeſſor nach jenem Alpendorf zu begleiten, um bei
der Bergung der Leiche zugegen zu ſein

Im Wagen verließen jie noch in derſelben Nacht
das Städtchen.

Unterwegs geſtand Meunier dem Profeſſor aber,
daß er nunmehr ziemlich beſtimmte Beweiſe dafür habe,
daͤß Hubert Leonard nicht auf der Fee, wohl aber an

— Bord der Gaͤscogne! verunglückt ſei.

Heute morgen,“ ſchloß er ſeine vom Profeſſor mit
höchiler Spannung verfoͤlgte Rede, „iſt es endlich einem
Agenten gelungen, die Spur Leonards, ausfindig zu
maͤchen! eine Stunde vor Abgang der „Gaseogne“ hat
er in Cherbourg auf einer dortigen Bank, an die kurz
zuvor von Paris aus namhafte Beträge für ihn ein-
gezahlt worden waren, ſein geſamtes Vermögen erhoben.
E3 il alfo anzunehnien, daß er es war, dex mit den
Papieren Falcönnets die verhängnisvolle Reiſe auf der
„Sascogne“ angetreten hat.“

Zeßzt erſt fägen Sie mir das? rief der Profeſſor


überhaupt zu jener Unglücksſtelle??

„Hätte ich mich geſträuht, Sie zu begleiten, ſo
würben Sie angenommen haben, ich unterließe irgend
etwas, das Ihrer Tochter Rettung bringen kann.“

„Nun, faͤlls es ſich wirklich beftätigt, daß Leonard
unter falſchem Namen die Flucht ergriffen hat, ſo
fann e8 für ein Forum einſichtiger Männer meines
—4 doch keinen Zweifel mehr an ſeiner Schuld
geben.“

Wenigſtens dürfte ein geſchickter Berteidiger Nutzen
daraus ziehen zu Gunſten der Angeklagten!“ ſagte
Meunier vorſichtig.

Der Profeſſor befand ſich in namenloſer Spannung,
als das Gefährt endlich im Morgengrauen in Almagel
anlangte. Man begab ſich ſofork nach dem Haufe des
Ortsvoͤrſtands. Dort erfuhr man aber, daß der Maire
mit einer Anzahl ausgebildeter Führer und Iräger den
Abend zuvor ins Gebirge ausgezogen jei. Rettungs-
gerätfchaften, Seile, Winden, Stangen, Fackeln, Eis-
pickel, Schneeſchuhe und eine Bahre feien mitgenommen
worden.! Da kein männliches Weſen am Ort zurück-
geblieben war, übernahm eine Frau die Führung der
beiden Fremden.

Unterwegs erfuhren ſie von dieſer, daß Hirten die

Leiche ſchon vor acht Tagen bemerkt hatten. VBom


inmitten eines ſteilen, mächtigen Abhanges gelegen.
Ohne Aufgebot großer Hilfskräfte ſei die Hergung des
deichnams aber ausgeſchloſſen geweſen. Und da die
eigentlich zugehörige Gemeinde die Mittel nicht befaß,


gebracht, um abzuwarten, ob jemand fich meldete, der
die Koften aufzubringen bereit fei. Thatſachlich ſei vor
drei Tagen eine Dame aus Siders angekommen, die
jene Notiz geleſen hatte und exklärte, ſofort eine Erpe-
dition ausrüften zu wollen. Seitdem ſeien die Leute
nun droben im Gehirge thätig, ohne aber an die ſchier
unzugängliche Stelle gelangen zu können.
Auf beſchwerlichen, ſteilen Fußpfaden erklomm der
kleine Trupp endlich die Höhe, in der die erſten Auf-


weuͤerer niehrſtündiger Wanderung auf einen Teil der
Leute aus Almagel. Man haͤtte bei Nacht unter Fackel-
beleuchtung von berſchiedenen Seiten aus der Unglücks-
ſtelle fich zu nähern berſucht. Nirgends aber hatte ſich
eine Möglichkeit ergeben. (

Da endlih mar einem der Führer eingefallen, die
Richtung der ſchmalen Rinne, die an dem graufigen
Abhaͤng entlang führte, zu verfolgen. Ein Teil der ge-



übteſten Leute begleitete ihn, während der Maire mi
Frau Lugenz auf halber Höhe wartete.

Als Meunier und der Profeſſor zu ihnen ſtießen,


der Führer. Fraͤnkel verſtand den Dialekt nicht, den
der Butſche ſprach, er merkte aber an den erregten
Mienen der Ümſtehenden, daß die Meldung eine in-
haltſchwere war. Meunier übernahm denn auch ſofort
das Amt des Dolmetſchers.

Die Gendarmen von Siders ſcheinen ſich in ihrer
Annahme, daß es von der Feehütte aus keine Ver-
bindung hier herüber giebt, geirrt zu hHaben. Die
Rinne, in welcher der Leichnam liegt, zieht ſich ein
paar tauſend Meter weit nach der Fee hin. Einige
Führer ſind bereits unterwegs nach der Schutzhütte,
um Ddie Fortſetzung des Weges zu erforſchen und feſt-
zuſtellen, ob ein Traverſieren möglich iſt.“

Der Maire machte die Fremden darauf aufmerkſam,
daß ſich ungefähr zweihundert Meter höher ein Aus-
blick befinde, von dem aus man die Schutzhütte ſehen
könne! Erregt und ungeduldig begab ſich die ganze
Geſellſchaft dahin. Frau Lugenz zeigte ſich von einer
bewundernswürdigen Energie Trotzdem ſie ſchon die
ganze Nacht hier oben zugehracht hatte, trotzdem fie
des Steigens ungewohnt und auf die Unterſtützung
durch die Krücke aͤngewieſen war, ſcheute ſie vor keiner
Anftrengung zurück! Nur nach Gewißheit über die
Perſönlichkeit des Abgeſtürzten verlangte fie’s.

Stunde auf Stunde verrann, ohne daß ſich im
ſchneebedeckten Alpengebiet untexhalb des Feegletſchers
etwas gerührt Hätte. Kaum dreihundert Meter abwärts,
jenſeits einer breiten, jäh abfallenden, unüberbrückbaren
Schlucht, lag die im Schnee erſtarrte Leiche des Un-
bekannten. Das Haupt war mit dem Antlitz in den
Schnee vergraben, ein Arm hing über den Rand des
Abgrundes.

Meunier haͤtte ſich vom Maire deſſen Feldſtecher
reichen laſſen, um zu erforſchen, ob die Kleidung des
Leichnams irgend einen Anhalt ergab; ſie war aber
vom Schnee farblos und verwaſchen.
ſtreckte er die Hand nach der etwas tiefer gelegenen,
von hier aus nicht größer als ein Wagenkaſten er-
ſcheinenden Schutzhütte aus.

„Da ſind fie!“ rvief er überrafcht. „Bier Männer
zähle ich — da, noch einen fünften, einen fechjten !“

Augen, Ferngläſer und Krimſtecher richteten ſich
ſofort auf das winzige Plateau. In atemloſer Span-
nung verfolgte man die ſchwierigen Manöver der Al-
mageler Führer. Zunächſt wurde eine Geſtalt am Ab-
hang mittels des Seiles herabgelaſſen.


feſſor, den es bei dieſem Anblick grauſte.

Man erklärte ihm, daß dies die mutmaßliche Ab-
ſturzſtelle ſei

„Jetzt hält der Mann!” rief der Maire plößlich.
Eyen iſt es — ich erkenne ihn am Bart Sehen
Sie, er hat Boden unter ſich gewonnen. Es ſcheint
nur ein riffartiger Vorſprung in der Felswand zu
ſein, aber er iſt wohl breit genug, daß ein Menſch
ſich darauf halten kann!“

„Sehen Sie doch, ſehen Sie doch!“ rief Fränkel,
„das Seil wird locker gelaſſen —— der Mann geht
weiter!“

Thatſächlich ſah man den beherzten Führer auf
einer Art Schuͤrre ſich vorwärts bewegen. Doch plötz-
lich hielt er.

Der Weg vor ihm hört auf!“ meinte der Nichter.

„Nein, das Seil reicht nicht weiter! rief Frau
Lugenz, die angeſpannt ausſpähte. „Sr knüpft es auf
— Allmächtiger, wenn ihn jetzt ein Schwindel erfaßt !“

Der Maire ſchüttelte den Kopf. „Unfer Freund
Eyen macht noch ganz andere Wege. Der traverſiert,
wennis ſein muß, auf einem Gletſcherrücken, auch wenn
er ſo ſchmal wie eine Meſſerſchneide mwäre.“

Der Waghalſige hatte inzwiſchen thatſaͤchlich das
Seil zurückfinken laſfen und ſetzte ſeinen Weg, teils


haltend, keils auf allen vieren kriechend, langſam und
ſtetig fort. Nach einer Viertelſtunde etwa entzog ihn
aber ein mächtiger Bogen, der um einen Keſſel herum-
führte, den Blicken der Ausſchgu haltenden Gruppe.

Eine lange, bange Friſt verſtrich.

Faſt eine Stunde war vergangen, da erblickte man
den beherzten Führer endlich mwieder. Nun vermochte
man ſogar ſein Geſicht zu erkennen; e& war frebsrot
von der Kletterarbeit! Taſtend gelangte er vorwärts
und aufwärts. Cr betrat jetzt die Rinne, die ſteil


auf dem der Tote lag. Dem Profeſſor, der zum erſten-
mal in ſeinem Leben einen Hochtouriſten bei der Arbeit
ſah, trat der Angſtſchweiß aus den Poren. Auch
Meunier und Frau Lugenz befanden ſich in fieberhafter
Erregung. ;

„S3 ijlt mir nur ein Rätſel, wie der Abgeſtürzte
es fertig gebracht haben ſoll, dieſen weiten Weg bis
hier herüber zuruͤckzulegen, wo damals gewiß noch mehr
Schnee den Steig hedeckt hat,“ ſagte der Maire.

Meunier ſchültelte den Kopf. .„Damals hatten wir




nedg, keinen Neuſchnee; der fiel erſt in der Nacht dar-
auf.

„Aber der Mann muß ſich beim Abſturz doch vex-
letzt haben!“ rief der Profeſſor. „Wie kann er in
ſolchein Zuſtand einen Weg gemacht haben, der von
einem gefunden und mit allem Werkzeug ausgerüſteten
Bergſteiger eine Strapaze ſchlimmſtex Art fordext?“

Sie müſſen bedenken,“ ſagte Meunier, „daß eS
für den Unglücklichen keine andere Wahl gab. Er
mußte doch weiter, konnte doch nicht ewig doͤrt liegen
bleiben. Vielleicht hatte er auch ſchon auf der erſten
Stelle, zu der er abſtürzte, unterhalb des Plategus
der Schuͤtzhütte, um Hilfe geſchrieen, war aber nicht
gehört worden.“

Frau Lugenz entſann fich, was ihre Schwieger-
tochter gelegentlich einer früheren Vernehmung angegehen
hatte. Waͤhrend Stephan von den vier Piemonteſen
nach der Hütte gebracht worden ſei, habe ſie ganz deut-
lich das Aechzen und Stöhnen eines Menſchen vernom-
men, und zwar unterhalb jener Stelle, an der man
Hut, Uhr und Ruckſack Leonards aufgefunden hatte.
Frau Lugenz erinnerte jetzt den Richter daran.

Die Möglichkeit, daß Marianne die Hilferufe des
Verunglückten gehört hatte, mußte Meunier zugeben,
es mar auch ebenſo erklärlich, daß der vom Plategu
damals herabgelaſſene Giacomo den Abgeſtürzten nicht
entdeckt hatte, weil dieſer inzwiſchen in ſeiner Todes-
angſt und in der verzweiflungsvollen Suche nach einem
retlenden Ausweg auf der Schurxe weitergeklettert war.

Aber rätſelhaft iſt mir’s, daß die Schachener ihn
nicht entdeckt haben!“ ſagte der Richter kopfſchüttelnd.
Sie werden wieder hauptſächlich nur im See nach-
zeforſcht haben, wie damals, als dex Engländer ab-
ftürzte, ſtatt daß ſie die Gegend gehörig nach allen
Seiten durchftreiften.“ — ;

Nun war Eyen, der waghalſige Almageler, ein paar
Körperlängen unterhalb des kleinen Abſatzes angelangt,
auf dem der Tote lag.

„Wie mag der Unglückliche damals ſeinem Schöpfer
gedaͤnkt haben, als er den Vorſprung über ſich ſah,“
ſagte der Profeſſor. „Gewiß glaubte er ſich ſchon
gerettet; als er aber die kleine Felsplatte erreichte, ſah
er, daß der Weg aufhörte!“

„Da iſt er rief Frau Lugenz. „Er klettert hin-
auf! ... O, Schnee broͤckelt unter ſeinen Füßen ab
— wenn er nur nicht in letzter Sekunde noch verun-
glückt!“

Es gab, wie es fchien, für den geübten Hochtou-
riſten überhaupt keine Gefahr. Langſam richtete er
ſich empor und nun ſtand ex dicht bei dem Verun-
gluͤckten. Zunächſt ſäuberte Eyen die Felsplatte vom
Schnee. Dabei fuchte er den Leichnam vom Rand der
Kanzel zurückzuziehen. Das hatte aber ſeine Schwierig-
keiten, denn der Körper ſchien feſtgefroren zu ſein.
Jetzt wandte er den Körper um. Aber das Geſicht
war durchaus unkenntlich. Die Kälte zwar hatte die
Verweſung hinausgeſchoben, aber das Geſicht war ver-
mutlich vom Abſturz über und über zerriſſen und zer-
ſchlagen. \

Eyen ſchien inzwiſchen die Gruppe, die jede ſeiner
Bewegungen verfolgte, auf dem gegenüberliegenden
vergleiſcherten Höhenzug erblickt zu haben. Er zeigte
en Leuten während der Unterſuchung der Leiche panto-
mimiſch an, in welchem Zuſtand ſie ſich befand. Die
blutigen Stellen des Anzugs verrieten, daß der Un-
glückliche ſich das Knie und den linken Unterarm ver-
letzt, wenn nicht aar gebrochen hatte. Die erſtarrten
Haͤnde zu löfen, ſchien dem Führer unmöglich.

Faſt gleichzeitig ſtießen Frau Lugenz und dex Pro-
feſſor plötzlich einen überraſchten Ruf aus: der Führer
hatte den Händen des Erſtarrten einen Gegenſtand ent-
wunden, den er in die Höhe hielt, um ihn der Gruppen
zu zeigen. Es ſchien ein Notizbuch zu ſein.

Er öffnete es, Ddurchblätterte es und las daxin.
Eyen wax ein Deutſcher. Vermutlich war der Inhalt
fraͤnzöſiſch oder in ſonſt einer dem Führer fremden
Spraͤche abgefaßt, denn er ſchüttelte den Kopf, ſteckte
den Gegenſtand aber zu fich. :

„Nun durchſucht er die Taſchen!“ ſagte der Maire.
* Uhr truͤg der Fremde, wie's ſcheint, nicht bei
ſi h“

„Leonard hatte ſie ſchon beim Abſturz vam Plateau
der Schutzhütte verloren,“ ließ ſich Frau Lugenz ver-
nehmen.

„Da — ein Taſchentuch!“ meldete der Maire weiter.
„Und ein Geldbeutel — ein Meſſer!“

„Wenn wir nur das Buch bekommen, rief Frau
Lugenz ungeduldig. „Wenigſtens über den Namen des
Verunglückten wirde e& uns doch Auskunft geben!

Eyen hatte alles zu ſich geſteckt, was die Taſchen
des Toten enthalten hHatten. Von der linken Hand,
die halb zerquelſcht war, zog er nun auch einen Ming.
Dann richtete er ſich auf und hielt Umſchau! Die
Leiche auf dem halsbrecheriſchen Pfad, auf dem er ge-
fommen, zurück zu transportieren, ſchien ganz und gar
ausgeſchloſſen. Eine andere Verbindung gab es mit
der erponierten Stelle aber nicht.

„Es wird nichts anderes übrig bleiben,“

meinte


 
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