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gen 14.

Das Buch für Alte.

397



Mit dem Ausdruck des Widerwillens und wandte das
Geſicht ab. „Führe midh weg!“ *
Anita aber hielt ihre Augen prüfend auf die jetzt
pöllig regungslos und ſtumm Daliegende geheftet und
ſagte einfach: „Bielleicht können wir ihr helfen.“

Damit war fie auch Jchon an der Seite der Frau
Und kniete ungeachtet der Feuchtigkeit des Bodens neben

ihr nieder. 4

Die Aerniſte iſt ohnmächtig und hat ſich beim
Niederſtürzen die Stirn verletzt. Nimm mein Taſchen-
tuch, Käthe, halt es unter die Quelle dort, und du,
Tonio, gieb Wein.“ *
Im blaſſen Antlitz einen ruhig bewußten 3 gab
ſie flüſternd ihre Anordnungen, waͤhrend fie der Kranken

geſchickt die Kleider lockerle. Die kleine Geſellſchaft
war in Bewegung geraten, nur Margarete ſtand, den
Ausdruc eines fcharfen, phyfifchen Unbehagens auf dem
Geſicht, abfeits. Sie verlangte nochmals, Haſſo ‚olle
mit ihr weitergehen, e3 ſeien ja der Helfenden über-
genug.

Bis die Frau erwacht, bleibe ich zur Stelle,“ er-
Widerte Oldenhofen kurz Dann irat er zu Anita hin,
beugte ſich zu ihr nieder und fragte leife: „SIlt Ddie
Aunde gefährlich. Zeigen Sie.“ .

Sie wehrte ab. „Nicht jetzt Laſſen Sie das Tuch
darauf liegen! aber die Flajche, bitte, halten Sie.
Sie reichte ihm die Weinftaſche, hob der Ohnmäch-
tigen ſanft den Kopf ein menig und befeuchtete ihr,
von Käthe unterjtüßt, Schläfen, Augen und Mund
mit dem belebenden Naß. Ihre Bemühungen hatten
Erfolg, die Frau begann zu atmen, bewegte ſchließlich
die Lider und öffnele die Augen. Zunächſt blickte ſie
rtändnislos um ſich, dann“begriff ſie, was ihr ge-
ſchehen war, und richtete ſich, von den beiden Mädchen
Unterftüßt, langſam auf. Zu erheben vermochte ſie ſich
jedoch noͤch nicht wieder. Mühſam ſtammelte ſie ein
paar Worte, wie: Nichts — Dfter vorkommen —
Krampfanfall —“ Dann ſank fie müde zurück, als
wolle ſie ſchlafen.

Anita hielt ſie umfangen, gegen ihre Bruſt ge-
drüct, mit beinahe mütterlich liebevoller Miene auf

Ddas abgezehrte Geficht des armen, kümmerlich geklei-
deten Weibes niederſchauend.

8** wir einen Wagen hHätten!“ rief der junge

atera.

„Will ich ſofort beſorgen,“ erflärte Haſſo und machte
den Vorfchlag, er werde mit feiner Braut zu dem
nicht mehr fernen Waldſeewirtshaus gehen, dort ein
Gefährt auftreiben und dann mit demfelben zurück-
kehren. Die beiden Damen möchten indeſſen unter
des Malers Obhut bei der Kranken zurückbleihen.

Und ſo geſchah es. Oldenhofen reichte ſeiner ab-
ſeits auf und ab fchreitenden Braut den Arm und ging
mit ihr, ſo ſchnell es ihre Kraft erlaubte, dem Saft-
hauſe zu. *

Als er nach kaum einer halben Stunde mit dem
Fuhrwerk zurückehrte, haͤtte die Frau ſich inzwiſchen
etwas erholt. Sie haͤtte ſich aufgerichtet und ſtaͤmmelte
Dankeswoͤrte. Sie fäme aus dem nächjten Dorfe und
Würde Öfter auf weiteren Wegen vom Schwindel be-
fallen, heute fei e& befonder8 {chlimm gemwejen. Im
Wagen nach Hauſe zu fahren, nahm ſie unter Freuden-
hränen über fo viel Güte an, die Begleitung der
Jungen Mädchen jedoch lehnte ſie ab, mit dem Hin:
wWeis, fie möchte zu Haufe möglichſt wenig Aufhehens
von ihrem Unwöhlſein machen. Ihr Mann ſchlüge
ſie ſanſt, denn er glaube ihr das Krankſein nicht.
Man willfahrte ihrem Wunſche, und nachdem Haſſo
in betrachtliches Geldgeſchenk in die Hand der armen
Frau gedrilelt und Anita ihr an Stärkungen mitgegeben,
Was noch im Ruckſack vorhanden war, fuhr der Wagen
mit ihr davon. Die anderen machten ſich auf den
Weg zu der im Reſtaurant ihrer haxrenden Margarete.

Zunächſt ging Haſfo ein Stück mit dem jungen

aler zufammen, eifrig über den Zwiſchenfall ſprechend,
‚AlS aber Käthe mit einer Frage über die technifchen
Mängel eines von ihr gezeichneten Bildchens ſich an
Hatera wandte und Diefer zu längerer Auseinander-
Teßung anhub, gefchah es ganz natürlich, daß Olden-
hofen an Anitas Seite irat. . .

Sie ging, noch völlig unter dem trauxigen Eindruck
4 Stunde, langſam, geſenkten Hauptes neben
ihm her.
und bald waren ſie weit hinter dem anderen Paare
ückgeblieben. Die Luft, die ſie beide atmeten, war
„‚TOmwül und fchwer beide ſprachen halblaut miteinander,
wie unter übermächtigem Drude.

Er fah hernieder auf die ſchmächtig zarte Geſtalt
an feiner Seite. Vorn auf ihHrem Kleide war ein
Bluifleck von ihrem Samaritermerf zurückgeblieben. Er
Harrte auf diefe Stelle und ſagte zögernd: „Sie haben
bei Ihrem Liebeswert zu weniß an ſich gedacht, Fräu-

ein Anita.“

Er nannte ſie zum erſtenmal beim Namen, und
da wurde ſie ebenfo rot, wie der Blutfleck. Vexwirrt
a fie einen Augenblick auf zu ihm; dann erſt ver-
was er meinte und ein Lächeln flog um ihren

nd.






„An mein Kleid, wollen Sie ſagen?“ gab ſie ebenſo
leiſe zuxruck wie er geſprochen hatte. „Nein, gewiß
nicht. Ob es wohl Menſchen giebt, denen nicht bei:
nahe jedes Bewußtſein ihres Ichs dahinſchwindet, fo-
bald ſie einmal wahrhaft vor dem Elend ſtehen?“

Wie ein körpexlicherx Schwerz zuckten durch Haſſos
Erinnerung die gefühlstalten Worte ſeiner Braut. Den
Kopf aufwerfend, ftieß er abgeriſſen hervor: „Ich —
ich glaube, e& giebt deren mehr, als man ahnt. Das
Unglüc, das eigene, oder das fremde, iſt der einzige


ſehen kann, wie es von Haus aus iſt — 'ſchön, odẽr
häßlich.!

Er brach furz ab, ſchwieg und ſah finſter vor ſich
hin. Auch Anita blieb ſtumm.

Aus der Tiefe des Waldes tönte leiſes Vogel-
gezwitſcher zu ihnen herüber, und nach und nach be-
gann im grünen Dämmerlicht ein weiches Träumen
ſie in ſeine Schleier einzuſpinnen.

Aus Oldenhofens Antlitz wich allmählich alles
Düſtere. Sein Blick bohrte ſich nicht mehr ziellos ins
Leere, ſondern glitt ſacht und zaͤrtlich über welke Mohn-
blumen in wirrem, dunklem Haar, über ein vom


roten Schuhchen, die ſich vorhin in ſein Herz getanzt
hatten.
Und ſo was tanzt ſich durchs Leben und bleibt

Seine Braut! Ach,


Wer hatte ſo geſprochen?
ſeine — ſeine Braut!

In ihm ſtieg es auf, heiß verhalten, wie Gewitter-
luft. Unwillkürlich ſtieß er den Hut in den Naͤcken
und atmete tief auf.

Warum mußte gerade er es ſein, der die große,
harmherzige Weihesſeele ſchaute in dieſem fremden,
kleinen Mädchen da an ſeiner Seite?

Als könne ſie ihm die Frage beantworten, neigte
er Anita ſein Geſicht entgeßen und ſah, als fie das
ihre zur Seite wenden wollte, daß ihr große Thränen
über die Wangen rannen.

Anita, Sie weinen?“ flüſterte er gepreßt.

Er hatte ihre Hände gefaßt, die ſie ihm willenlos
überließ.

Mit einem Verſuch des Lächelns ſtotterte ſie ſcham-

Und doch —“
Ein kurzes, wehes Aufſchluchzen ſchnitt ihr die nur


Ich dachte an all das Leid, an al den Jammer
der Menſchen, und mir kamen Thränen über fie alle —
alle — weil ich nicht einmal einem einzigen von all
den Tauſenden zu helfen vermag!“

Haſſo zwang es, die Hand, die in der ſeinen ruhte,
die kleine, barmherzige, ſchmerzenheilende Hand an die
Lippen zu preſſen.! Da fenkte ſich ſein Blick in ein


heit lag Und jetzt zuckte durch die Gewitterſchwüle


Licht war’s!

Davon durchſtrahlt, durchſonnt, preßte er die in
ſeine Arme, die es ihm entzündet.

Hier, hier iſt die Schönheit — die waͤhre, Die
echte, bebte ſein Flüſtern in ihre Seele. „Hier würde


fließen, giebts kein Erſtarren. Anita —. Annie —

Ein Kuß brannte auf ihren Lippen, und nun ver-
wandelte ſich ihr Geſichichen, das wehrlos an ſeiner
Schulter gelegen, plötzlich.

„Anita!“ Erſchreckt über ſich übex ſie, ließ er ſie
los, ihre Vorwürfe erwartend. Sie aber fah ihn nur
einmal hilflos an, ſtrich zitternd über das blaſſe Ge-
ſicht und lief ſchweigend von ihm hinweg, dem voran-
geeilten Paare nach.

Käthe kam ihr auf halbem Wege entgegen, als ſei
auch ſie vor etwas geflohen.

Geflohen?

Ach, doch wohl nicht, denn ihre Augen leuchteten
wie die Sonne, ihre Lippen glühken und ftammelten
irgend etwas Glückberauſchtes an Anitas Halfe.

Dieſe abex fragte nichts, wollte nichts verſtehen
don den, heimlichen Jubellaͤuten, die von der Freundin
Lippen kamen. Ihr Herz that einen gellendent Angſt⸗—
jchrei, und der gaͤlt nicht allein dem Feuerbrand, der
um Käthe und ihren Bruder lohte Aus dem Flammen-
meer, das in ihr ſelber emporſchlug rief ſie um Hilfe.

Aber e& wald ihr keine Nur fchwere Wetterwolfen
ſah ſie ſich ballen an ihrem bis dahin fo bhlauen
Himmel.

In beklommener, verhaltenex Stimmung traf die
kleine Geſellſchaft in der Wirtſchaft ein. Kaͤthe, an der
Feite des jungen Malers daherſchreitend, erblickte ihren
Vater am Tiſche neben Margarele. Ihr ohnehin rotes,
heißes Geſicht flammte höher, in ihren ehrlichen Augen
ſtand ein Bekenntnis.
vom Stuhl empor und kaum den Gruß der anderen
heantwortend, packte er ſeine Tochler mit eifernem
Griff beim Arm.




Sch habe dir etwas zu ſagen, du —“

Nur fie perſtand die vor Erregung heiſer hervor-
geſtoßenen Worte und ſtumm folgte fie ihrem Vater
in den zum Reſtaurant gehörenden Garten.

Nach. einer Weile kehrte Käthe allein und ſehr ver-
ſtört blickend zurück und ftotterte abgerifjen, daß ſie
umgehend mit ihrem Vater nach Haufe müſſe, ſie ſei
daheim nötig.

Die unglaubhafte Ausrede verſchloß ſelbſt Haſſo
den Mund zu einer Frage Sein Blick ſuchte Anita,
die wie Schnee ſo weiß, in regungsloſem Schweigen
duſaß.! Ihr Bruͤder aber ſtarrte in die Luft hinein
mit ſeltſamem Ausdruck kühner, ſiegesſicherer Ent-
ſchloſfenheit. ;

Auch über Margarete irrten Oldenhofens Augen,
Aufſchluß über das Geſchehene fuchend. Da jah er,
wie ſeine Braut, den Koßf ſteif aufgerichtet, mit an
Verachtung grenzender Miene das Geficht dem Ge-
ſchwiſterpaar zugefehrt hielt. Und dann drängte ſie
kurz und beſtimint zum Aufbruch.

Der Heimweg faͤnd unter beklommener Einſilbigkeit
ſtatt. Haſſo führte ſeine Braut, der Maͤler folgte mit
ſeiner Schweſter, und ſobald die erſten Häuſer der
Stadt erreicht waren, verabſchiedete er ſich höflich be-
ſtimmt von Oldenhofen und Margarete. Noch einmal
hielt Haſſo die zitternde, kleine Hand Anitas mit feſtem
Drucke in der ſeinen. ;

Dann ſchritt er ſchneller mit ſeiner Braut voran,
deren Hauſe zu. Sie ſprachen nicht miteinander über
das Vorgefallene.

Als die beiden in den kleinen Garten vor des
Präſidenten Wohnung eintraten, ſtaͤnd da eine Frauen-
geſtalt, und wartete ihrer. Frau v. Oldenhofen mar
e8; aber wie ſah fie aus! Bleich, verängſtigt; ihre
Hände, die fich den Ankommenden entgegenſtreckten,
behten Haſſo, der auf ſie zuſpraͤng, zu fich heran-
ziehend, haſtete ſie ihm zu: „Den Praͤſidenten hat der
Schlag gerührt — er iſt tot.“ *

Margarete, die hinzugetreten war, hatte das letzte
Wort vernommen.

„Mein VBater !“ ſchrie ſie auf und ſtürzte in das
Haus hinein, am Lager des vor kurzem Verfchiedenen
zuſammenbrechend.

Auch Haſfo gingen die Augen über. Der Jammer,
das Mitleid mit der vom Unglück ſo haͤrt geprüften
Nargarete weckten aufs neue die ganze hHochfinnige
Hüte ſeines Herzens. Seine Mitleidsliebe öffnete weit
ihre Axme der ihren Vater beweinenden Tochter —
ſeiner Braut. —

Und Margarete flüchtete ſich hinein in dieſen Hafen,
mit ihrem bilteren Schmerz, ſo bereitwillig, ſo innig,
ſo völlig hingebend wie noͤch nie zuvor.

„Dein — nun nur noch dein!“ ſchluchzte ſie an
ſeiner Bruſt. „Hinfort du mein einzigfter, mein aller-
letzter Halt in dieſer Welt.“ -

Ein Eiſesſchauer rann über ihn hin. Es war ihm,
als griffe eine Fauſt in ſein Herz ünd zerdruͤcke Dar-
innen etwas, das ein Lebendes geweſen.

Aufſtöhnend faltete er die Hände hinter ſeiner Braut
umſchlungenem Haupte und verbarg ſein Geſicht in
ihrem Göldhaar, wie ein büßender Sünder.





Achtes Kapitel.

Es war am Vormittag. Frau Hatera ſaß am
Klapier und übte eine neue Arie ein. Anita war
beſchäftigt, aus einer abgelegten Bluſe der Mutter ſich
eine für ihren eigenen Hausgebrauch zurecht zu ſtutzen!


laflos hatte ſie die Nacht verbracht. Erſt beim

Norgengraͤuen hatte ſie ein wenig Schlummer und

Nuhe gefunden vor dem quälenden Bohren einer Cr .
kenntnis, die zu ſtiller, nächtlicher Stunde bei ihr ein-

gezogen mwar, als ſie im Erinnern noch einmal den

vergaͤngenen Tag durchlebt! Da hHatte es wie mit

Keulen auf ſie eingeſchlagen. „Er hat dich geküßt, und
du haſt gelitten, was du nimmermehr durfteft. — Der
Bräutigam einex anderen hat dich geküßt!“

Ein wildes Schämen vor ſich ſelbſt, vor aller Welt
hatte ſie mit nie gekannten Gluten übergoſſen. Dann
wieder war jenes hilfloſe Schwächeempfinden über ſie
gekommen, das ſie im Walde geſtern wehrlos feiner
Imarmung preisgegeben und nöch nicht Linmal ein
Bewußtſein deſſen in ihr hatte aufkommen laſſen, was
ihr Freventliches geſchehen war.

Und wenn es nichts geweſen war als das reinſte
Empfinden, wenn ex für ſie ſo gut und lieb und ſchön
fühlte, wie nur ein Menſch für einen anderen zu fühlen


der Verlobte einer andeten! Das, was {ie geftern
unter dem zwingend zärtlichen Blicke ſeiner Augen nicht
in voller Klarheit empfunden, heute wußte fie es und
heute war ſie unglücklich darübet, wie fie es nie zuvor
im Leben geweſen.
Sie hatte ſich eine Arbeit vorgenommen, damit
niemand die Vermutung kommen könne, ihr fei anders
als alltäglich zu Mute! Abex bei jedem Klingelzug,
bei jedem Thürklappen ſchreckte ſie zitternd auf, als
 
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