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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 46.1911

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Heft 8
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https://doi.org/10.11588/diglit.60742#0189
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182 ... ü .ü— -v35 Luch für Nie--- -- -heft 8

Ganz vorn, neben einem Kandelaber, saß Marion
auf der durch eine Nische gebildeten Steinbank. Sie
hatte den Schleier über das Gesicht gezogen und
erhob sich, als Titns mit suchenden Augen in ihre
Nähe kam. Ihre Hand legte sich auf seinen Arm.
„Erschrick nicht," sagte sie hinter dem dichten
Gewebe. „Die Toten stehen nicht auf. Ich habe
dich ja auch vorbereitet durch meine Botschaft —
diese letzte Erinnerung gehörte nur uns beiden."
Obwohl er tatsächlich halb und halb vorbereitet
war, fuhr ihm das Grausen dennoch so sehr in die

Glieder, daß er eine Stütze suchte und nach dem
Kandelaber griff.
„Nimm meinen Arm," sagte Marion mit der-
selben leidenschaftslosen Stimme. „Wir wollen ins
Louvre gehen. Dort werde ich dir meine Beichte
ablegen."
So gingen sie stumm mitten unter der Menge.
Titus hatte willenlos und betäubt seinen Arm in
den Marions gelegt, und da er an ihrer linken
L-eite ging, so spürte er den Schlag ihres Herzens.
Früher waren sie niemals so gegangen.

Als die großen, kühlen Steinhallen sie über-
schatteten, wendete Marion sich nach jenem langen,
mit Säulen und Statuen geschmückten Gang, der
in einer Rotunde endet.
In dieser Rotunde steht in einsamer Schönheit
das göttliche Bildnis der Venus von Milo, wie es
zu den Zeiten eines Praxiteles geformt worden
war.
Die Halle war zu dieser frühen Stunde noch leer,
und Marion setzte sich in den Schatten der Göttin
auf eine Bank.


sm lkeich der löne. Nach einem Semä'Ide von k. v. lkenarri.

„Komm," sagte sie, „die da oben verrät nichts.
Sie ist auch erstarrt."
Er nahm neben ihr Platz und bat mit unsicherer
Stimme, daß sie den Schleier zurückschlagen möge.
„Niemals!" entgegnete Marion bestimmt.
Und dann begann sie zu beichten — alles,
von der ersten bis zur letzten Stunde. Nur von
jener Brücke sprach sie nicht, auf der das rasche
Erwachen von Paris ihre dunkeln Pläne durchkreuzt
hatte. „Zwischen dir und mir soll Wahrheit sein,"
sagte sie. „Die Lüge war lange genug zwischen
uns. Sonst war nichts da, kein Haß und keine Liebe.
Und nun bin ich frei, ich gehöre weder ihm noch dir,
ich bin so frei wie der Vogel in der Luft uud wie
der Fisch im Wasser. Geliebt habe ich wohl, aber
wenn du bei der steinernen Göttin da oben ein Herz

suchen wolltest, du würdest es eher finden als in
meiner Brust. Aber du wirst nicht suchen, und das
ist gut."
Dann sah sie um sich und achtete darauf, wie die
Rotunde sich allmählich füllte, denn die Besucher
kommen immer zuerst hierher, und viele von ihnen
wissen kaum mehr vom Louvre, als daß man dort
ein wunderschönes Frauenbildnis aufgestellt hat.
Ganz in der Nähe von Marion stand ein sehr
junges ländliches Paar. Wie Verliebte zu tun
pflegen, hielten sie sich an den Händen, starrten die
Venus an und sprachen kein Wort.
Zu ihnen gesellte sich die junge Frau und machte
sie auf den Faltenwurf des gleitenden Gewandes
aufmerksam, und erklärte ihnen, was man unter
einem Torso verstehe. Halb im Sprechen glitt sie

weiter rückwärts und ließ andere Gruppen vor sich
treten, und als der Professor, dem die Gedanken
noch durcheinander fluteten, sich endlich aufraffte, da
war sie verschwunden.
Er wußte in den labyrinthartigen Gängen des
Museums nicht recht Bescheid und eilte den alten
Weg zurück, um Marion zu suchen. Er fragte die
Aufseher,^aber keiner konnte ihm Auskunft geben,
und der Strom der Besucher ergoß sich immer von
neuem in die Hallen.
Marion hatte ein Nebenportal erreicht, das an
der Rückseite des Louvre auf die Rivolistraße hin-
ausgeht, und wo^immer eine Anzahl Droschken ver-
sammelt sind. Sie setzte sich in die erste beste und
winkte dem Kutscher mit der Hand.
 
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