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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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2 —
Nur einmal war das Gespräch dennoch sekuuden
lang an diesem Punkt hasten geblieben.
Die beiden Tischgenossen kamen nämlich aus die
Chemie zu sprechen, und der Anwalt sagte scherzend:
„Als frühere Hausgenossin eines Pharmazeuten sind
Sie ja eigentlich der geborene Kompagnon Ihres
Herrn Gemahls, gnädige Frau."
Veronika entgegnete: „Ich war tatsächlich der
Gehilfe meines Oheims — besonders in seinen
letzten Lebensjahren."
Das Gespräch war unterbrochen worden durch
das Hinzutreten eines anderen Badegastes, den Frau
Sellentin als Doktor Janson aus Hamburg vor-
stellte. Der Rechtsanwalt hatte ihn schon öfters
mit der jungen Frau zusammen gesehen.
„Ein Freund meines verstorbenen Oheims,"
setzte die schöne Frau hinzu.
Später erfuhr Groote, daß Doktor Janson auch
mit dem Chemiker Sellentin in wissenschaftlicher
Korrespondenz stand, aber davon hatte die junge
Frau nichts gesagt, wie sie überhaupt nur selten
von ihrem Gatten sprach. Ebensowenig konnte der
Rechtsanwalt ermitteln, auf welche Weise der nord-
deutsche Arzt mit dem ungarischen Apotheker in
Berührung gekommen war: er selbst äußerte sich
nicht darüber, er war überhaupt ein sehr verschlossener
und anscheinend etwas grillenhafter Mensch, Jung-
geselle, Mitte der Vierzig und wahrscheinlich reich,
denn er besaß eine Villa in Harvestehude, jener
eleganten Vorstadt Hamburgs, wo fast nur Millionäre
wohnen; auch befaßte er sich nicht mit der Praxis,
sondern lag ausschließlich wissenschaftlichen Studien
ob, die ihn wohl auch mit Sellentin in Verbindung
gebracht hatten.
Neben der blühenden Veronika fah er aus wie
ein Schatten. Seine hagere Gestalt, die kahle Ge-
lehrtenstirn, die scharfe Brille auf der Hakennase,
ein langer, dunkler Hungerbart und eine gebückte
Haltung: das alles zusammengenommen machte ihn
nicht nur älter als er wirklich war, sondern gab ihm
auch ein fast unheimliches Aussehen. Nur seine
Augen waren sehr schön und tief, und sie gingen
manchmal mit einem seltsamen Ausdruck über die
junge Frau, die wiederum in seiner Nähe ein scheues
und gedrücktes Wesen nur mühsam verbarg. „Vogel
und Klapperschlange" sagte ein norwegischer Schrift-
steller, der sich auf seine Menschenkenntnis etwas
einbildete.
Nun, gegen Groote war Veronika entschieden
anders gewesen, und als er jetzt auf seiner Fahrt
nach Hamburg das kleine Bild, den stummen Zeugen
eines Badeflirts, wieder in der Brieftasche barg,
da wurde er sehr nachdenklich und kaute an den
Spitzen seines blonden Schnurrbarts.
Wenn das wirklich ein richtig gehender Flirt
gewesen war, dann durfte Maud jedenfalls nichts
davon wissen, denn diese junge Dame, mit der
Frank sich seit einiger Zeit lebhafter beschäftigte,
hegte sehr strenge, englische Grundsätze, und sie würde
es niemals verziehen haben, daß einer ihrer Be-
kannten an den verbotenen Früchten eines fremden
Gartens naschte oder sie auch nur umschlich.
Maud Silvester war überhaupt ein ganz eigen-
artiges Mädchen. Ihr Vater hatte längere Zeit
als Oberst in Indien gestanden und ein ziemlich
abenteuerliches Lagerleben geführt; ungeachtet dessen
mochte er sich nicht von Frau und Tochter trennen,
und so geschah es, daß Maud an Tigerjagden und
ähnlichen Zerstreuungen in einem Alter teilgenom-
men hatte, in dem die Mädchen noch mit der Puppe
spielen oder hinter den Butzenscheiben eines In-
stituts sitzen. Dann war die Rückkehr in das Vater-
land erfolgt. Auf dem wilden und einsamen Dart-
moor, nicht weit von Folkestone und den Kreide-
felsen der Kanalküste, hatte der alte Haudegen
seinen Stammsitz Blackhouse bezogen und war dort
im verflossenen Jahr einem Leberleiden erlegen.
Seine Gattin und die einzige Tochter reisten bald
darauf nach dem Kontinent und verbrachten den
Sommer in einem vornehmen Berliner Pensionat.
Da hatte sich die Bekanntschaft zwischen Frank
Groote und Maud Silvester ganz zufällig in einem
Tennisklub angebandelt, eine Freundschaft, die jetzt
auf dem Punkte gewisser ernsthafter Erwägungen
angelangt war, obwohl die beiden jungen Leute
noch kein einziges Wort der Liebe miteinander ge-
wechselt hatten.
Während auf der Strecke von Woyens bis Rends-
burg seine Erinnerungen Veronika gegolten hatten,
saß die schlanke Sportgestalt der blonden Englände-
rin bis Hamburg schattenhaft neben Groote in den
Kissen des Wagens.
Dann verflüchtigte sich der ganze Spuk, uud
der Zug rollte in die weite Halle des neuen Bahn-
hofs ein.
Das Leben forderte seine Rechte.
Frank hatte seinen Freund Krause seit den Hei-
delberger Universitätstagen nicht mehr gesehen. Der


Vas Luch für- M!e

kleine, geschmeidige Hanseat mit dem glatten Gesicht
und den scharfen Brillengläsern war schon aus der
Hochschule ein sehr eifriger Kriminalist gewesen, dem
die Lösung verwickelter Kapitalfälle besonders gut
lag; es war nicht zu verwundern, daß er schon heute
iu verhältnismäßig jungen Jahren die schwierige
und verantwortliche Stellung eines Rats bei der
Geheimpolizei bekleidete, und als Groote in den
Nachmittagstunden den Weg nach dem berühmten
Stockhaus antrat, freute er sich auf eine interessante
Plauderstunde. „
Aber er traf den Polizeirat in etwas grämlicher
Stimmung.
„Du denkst wohl," sagte Krause nach der ersten
Begrüßung, „daß ich dir gleich mit einem Dutzend
interessanter Fälle ins Gesicht springen kann? Ich
sage dir, es passiert momentan rein gar nichts, die
Welt ist ledern geworden, wenn sie es nicht schon
immer war. Arbeit gibt's natürlich genug, da liegt
ein ganzer Stoß Akten, aber alles gewöhnlicher
Kram, selbst wenn es sich um Leben und Tod handelt.
Keine Leidenschaft, kein psychologisches Rätsel —
wenn mal so was auftaucht, dann sind ja immer
gleich die Herren Irrenärzte bei der Hand."
Frank lachte. „Und die Frauen? Wo die ihre
Hand im Spiele haben, ist doch Leidenschaft?"
„Das magst du wohl sagen, mein Junge; aber
unsere modernen Weiber sind auch Dutzendware
geworden, höchstens mit Ausnahme der englischen
Suffragetten. Oder hast du vielleicht neuerdings
Studien gemacht? Du kommst ja aus einem sehr
lustigen Seebade!"
Frank wurde plötzlich nachdenklich. „Wie meinst
du das, Fritz? Eine Hochstaplerin etwa?"
„Unsinn! Die stehen mir bis an den Hals. Nein,
ich denke an einen komplizierten Charakter, an
'Personen, die durch das Spiel des Zufalls Engel
geworden sind, und die derselbe närrische Zufall
plötzlich unter die Teufel schmeißt. So was findet
man immer noch am häufigsten bei den Weibern."
„Und woran merkt man das?"
„Nur an den Augen — immer an den Augen.
Ich glaube wirklich, du denkst an eine. Du machst
so 'n Gesicht, als ob —"
Groote dämpfte unwillkürlich die Stimme. „Ich
denke allerdings in diesem Augenblick an eine Be-
stimmte, die ich da oben kennen lernte. Aber das
ist die reine Suggestion, das ist die kriminalistische
Atmosphäre deines Amtszimmers. Sie hatte das
Gesicht eines Engels, aber ihre Augen waren rätsel-
haft, wie die Tiefe."
Der eingefleischte Junggeselle lächelte. „Ich
wundere mich, daß du dich von diesen tiefen Augen
losgerissen hast."
„Bitte — ihre Trägerin reiste schon gestern ab."
„Und der ganze Bahnhof war natürlich voll von
Anbetern?"

„Da irrst du dich," sagte Frank, „die Dame
verkehrte nur mit sehr wenigen. Übrigens, da fällt
mir ein — kennst du einen Doktor Janson in
Hamburg?"
„Wir kennen jedermann," sagte Krause gelassen.
„Er hat eine Villa in Harvestehude, ist sehr reich,
praktiziert nicht, beschäftigt sich mit wissenschaft-
lichen Studien und gilt als Wahrheitsfanatiker, folg-
lich als Sonderling. Was ist mit ihm?"
„Nichts Besonderes. Er verkehrte auch mit
jener Dame, deren Namen ich dir aber niemals
nennen werde."

„Sehr diskret von dir. Übrigens habe ich den
Doktor heute auf der Straße gesehen."
„Ja — er verließ Skagen schon vor einigen
Tagen."
„Und seitdem hattest du die Dame mit den tiefen
Verhrecheraugen allein?"

Das Gespräch stockte, es lag in der sarkastischen
Art dieses ausgesprochenen Weiberfeindes ein Laut,
der den anderen verletzte.
Aber Frank sprang ab. „Eigentlich komme ich
mit einer Bitte, Fritz. Ich bin einmal hier nnd werde
erst morgen Weiterreisen; kannst du nicht einen deiner
Leute hergeben, der mir einmal Hamburg bei
Nacht zeigt?"

Krause dachte einen Augenblick nach. „Das
wäre allenfalls zu machen. Wir tun es nur aus-
nahmsweise, wenn ein ernstes Interesse voraus-
gesetzt werden kann, aber das trifft bei einem Juristen
natürlich zu. Außerdem gebeu wir als Bärenführer
nur einen Beamten her, der ohnehin Dienst hat
— mit anderen Worten: der Mann geht nicht mit
dir, sondern du gehst mit ihm. Warte einen Augen-
blick."

Krause trat an das Telephon und sprach hinein;
dann drehte er sich um.
„Es trifft sich gut. Einer unserer schlauesten
Spürhunde, der Kriminalkommissar Dahl, hat diese
Nacht die Aufgabe, das Haupt eiuer Falschmünzer-
bande auszubaldowern. Er wird den Kerl nicht

finden, denn der ist vermutlich nach Paris abge-
dampft, aber vielleicht lassen sich Faden ermitteln.
Wenn du mit willst?" .
„Mitten durch die Holle!
"Na, so schlimm wird es nicht. Wo wohnst du?
"Adl0N." . - . c.rv. -c
Protz! Deine Praxis muß was abschmeißen.
Ist dir neun Uhr recht?"
„Natürlich."
Also dann wird er dich abholen. Inzwischen
lade" ich dich ein, unser Kriminalmuseum zu be-
trachten Vielleicht kommen wir damit gegen
Berlin nicht ganz an, aber es sind immerhin ganz
nette Sächelchen zu sehen."
Der Polizeirat war wieder vollkommen m semem
Element und die melancholische Stimmung hatte
sich verflüchtigt. Er faßte feinen Freund unter den
Arm und führte ihn durch die langen, düsteren
Korridore in ein kleines Kabinett, das bis an die
Decke mit Raritäten vollgepropft war. Jeder
dieser unheimlichen Gegenstände trug ferne Nummer
und einen Zettel, auf dem ferne Geschichte kurz

verzeichnet war. „ . ,
.Alles echt — kein Humbug," sagte Krause be-
haglich. „Mit diesem verrosteten Brotmesser — es
ist Blutrost hat ein sechzehnjähriges Dienst-
mädchen seiner Herrin die Kehle abgeschmtten —
um zwei Mark und ein paar falsche Ohrringe; diese
Brechstange öffnete einen Tresor, in dem drer wert-
lose Aktien und zwei Schornsteinhypothekenbriefe
lagen; jener damaszierte Dolch steckte in der Brust
eines unbekannten Matrosen, und der Täter ist
ebenfalls unbekannt geblieben. Hier ist unser Gift-
schrank —"
Groote unterbrach ihn. „Spielt das heute wirk-

lich noch eine Rolle?"
„Nicht mehr so sehr wie zu den Zeiten der
seligen Lukretia Borgia, die übrigens ein ganz
anständiges Frauenzimmer gewesen sein soll. Aber
was willst du — Frauenzimmer sind zu allen Dingen
fähig, und das Schleichende liegt ihnen besonders gut."
Er nahm eines der Fläschchen und hob es gegen
das Licht. „Jawohl, Freundchen, das Heimliche,
was keiner so leicht herausbekommt. Hier haben
wir so 'n Säftlein, das ganz besondere Eigenschaften
besitzt, als ob es geradeswegs aus der Hexenküche des
Doktor Faust stammte. Ein Tropfen davon berauscht
bis zur Sinnlosigkeit, zwei versenken in einen tod-
ähnlichen Schlaf — drei find der Tod. Und dabei
ist das Teufelszeug im Körper nicht nachzuweifen,
unsere Ärzte stehen wie vor einem Rätsel, und die
Chemiker zerraufen sich die Haare. Hast du so was
für möglich gehalten?"
„Im Mittelalter," sagte Frank nachdenklich, „soll's
das gegeben haben."
„Jawohl, das Geheimnis ging damals verloren.
Aber es ist wieder aufgetaucht. Woher, das wissen
wir nicht. Es mögen nur wenige fein, die das Rezept
kennen, und diese wenigen leben vielleicht unter
unseren Augen. Das ist ein recht angenehmes Gefühl,
mein Junge, und ich kann dir die Versicherung geben,
daß dieser Knüppel hier mir bedeutend lieber ist.
Damit wurde nämlich einer unserer eigenen Leute
totgeschlagen. Aber das geschah wenigstens am Hellen
Tage, vor hundert Zeugen, und nach dem Täter
brauchten wir nicht lange zu suchen."

Diese Worte des Polizeirats kaineu Frank un-
willkürlich wieder in den Sinn, als er abends
zwischen acht und neun Uhr in dem vornehm aus-
gestatteten Speifefaal seines Hotels saß und nach
einem vortrefflichen Essen den roten Burgunder-
in das geschliffene Kelchglas rinnen ließ.
Wahrlich, wir lehen trotz aller Sorgen und Ge-
brechen in einer verhältnismäßig sicheren Zeit,
und wer die Nachtseiten des Daseins nicht geflissent-
lich ihrer Hülle entkleidet, der kann sich zum mindesten
den materiellen Genüssen mit behaglicher Ruhe
hingeben. Jene Tage sind vergangen, in denen
jeder Bissen und jeder Trunk den Tod bergen konnte,
und Frank fühlte sich wenig geneigt, auch nur ihren
Schatten in seiner Vorstellung heraufzubeschwören.
Dennoch aber wollte er heute in die Tiefen der
Verbrecherwelt hinabsteigen, uud dieser Vorsatz tat
rhm fast leid, als der Kellner eine Visitenkarte
neben ihn legte, die nichts weiter aufwies, als den
schlichten rind titellosen Namen „Dahl".
„Ich lasse den Herrn bitten."
Der Mann, der nunmehr auf der Bildfläche
erschien, frei nicht ganz aus dem Rahmen seiner
vornehmen Umgebung, denn er trug einen dunk-
anständigen Zivilanzug, und hatte seine
mächtigen Fäuste sogar in neue Handschuhe ge-
zwängt aber ganz hinein paßte er auch nicht. Er
sah aus wie ein biederer Metzgermeister, der seinen
Vorteil wahrzunehmen versteht, denn in dem fleischi-
gen, stark geröteten Gesicht blitzten ein paar schlaue
 
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