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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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Illustriere fsmilielireitung
8. kjest. 1914.
Oop^rigki ISIS bv Union vsutseds VsrlLAsxsssUsvkLkt, 8tuit^nrt.

ver werivolf.
ftoman von Friedrich jaeobsen.
lroriseHung.) — (Nachdruck verboten.)
ewiß — Veronika besaß die Fähigkeit, ein
Verbrechen zu begehen; der Mann, der sich
jetzt bemühte, sie gegen sich selbst in Schutz
zu nehmen, hatte es bitter und schmerzlich
an seinem eigenen Leibe erfahren. Aber
diese Tat war nicht der Ausfluß eines schrankenlosen
Herrentums, sondern die furchtsame Notwehr der
Frau, die sich in ihrer Existenz bedroht sah.
Verzeihlich!
Verziehen?-
Wir wissen, daß zwischen einem Liebespaar nach
Zank und Tränen die heißesten Küsse und die
süßesten Stunden aufblühen; das Bewußtsein, ver-
letzt zu haben und verletzt zu sein, kann unter ge-
wissen Voraussetzungen eine gewaltige Reaktion er-
zeugen.
Und so schien es fast zwischen Janson und
Veronika der Fall zu sein, denn sie näherten
sich dennoch einander während dieser Londoner
Tage, und ihre Seelen begannen miteinander zu
spielen.
Das geschah besonders, wenn Janson seine Pläne
für die Zukunst entwickelte, denn in seinem metho-
dischen Denken konnte er nicht davon
ablassen, und allmählich hörte Vero-
nika ihm mit glitzernden Augen zu.
Drüben in New Dort oder tiefer
drinnen in dem gewaltigen Lande der
unbegrenzten Möglichkeiten wollte er
eine chemische Fabrik gründen.
Natürlich gemeinschaftlich mit ihr,
denn wenn sie ihr Vermögen zusam-
mentaten, dann gab es eine stattliche
Zahl, die auch in Amerika etwas galt,
und außerdem war es so selbstverständ-
lich, daß Veronika auch ihr Wissen mit
in die Wagschale legte.
Und diese Sozietät der Geschlechter
führte wiederum zu Jdeenverbindun-
gen, die zwar nicht ausgesprochen
wurden, aber dennoch heimlich im Hin-
tergrund lagen — von seiner Seite wie
eine schüchterne Frage, von ihrer als
leises, zweideutiges Lächeln.
Aber doch nicht verneinend, nicht
unbedingt abweisend.
Es war ein Altersunterschied von
zwanzig Jahren zwischen ihnen. Aber
auf ihrer Lebensstufe trat er weniger
hervor, denn Veronika war zu einem
Vollreifen Weibe herangeblüht, und auf
ihren Begleiter schien der schnellere
Fluß dieser Tage eine verjüngende
Wirkung auszuüben.
An Stelle des langen Gelehrten-
vollbarts ließ er sich jetzt einen klei-
nen modernen englischen Schnurrbart
wachsen, und er tat das sogar auf Vero-
nikas Anregung, die auch seine Kleidung
beeinflußte und aus dem weltfremden
Stubenmenschen einen eleganten Kava-
lier machte.
Fast von heute auf morgen, wie auf
der Bühne zwiscken zwei Akten.
Und er tat alles, was sie wollte;
er war wie Wachs in ihren schönen
Händen, die ihn jetzt auch dann und
wann berührten, wenn irgend etwas
nicht in Ordnung an ihm war oder sie
es anders haben wollte.

Dann ging ein Schauer über seinen Körper. Er
war bisweilen wie ein zum Jüngling erwachender
Knabe, wenn er wieder ein neues holdes Wunder
an Veronika entdeckte.
Einmal kam die ihn erfüllende Stimmung auch
zum Ausdruck, wie bei dem leisen Knurren einer Bestie.
Da waren sie zusammen im Theater gewesen
und hatten das blutaufpeitschende Stück des großen
Briten, sie hatten Romeo und Julia gesehen. Nicht
in der Professorenübersetzung von Schlegel, sondern
in den Urlauten, deren niemand die englische Sprache
für fähig halten wird, der es nicht selbst vernommen
hat.
Und nach dem Theater gingen sie in ein vor-
nehmes Restaurant, um zur Nacht zu speisen.
Veronika bat um Sekt.
Als sie ein paar Gläser rasch hintereinander ge-
trunken hatte, nahmen ihre Augen einen fieberhaften
Glanz an, so daß er besorgt wurde, nach ihrem Puls
tastete und zur Vorsicht mahnte. Denn der Arzt er-
wachte in ihm.
Da griff sie nach seinem Glase, in dem sich nur
noch ein winziger Rest befand, führte es an die Lip-
pen und zitierte gleich darauf die Worte Julias:
„O Böser, alles
Zu trinken, keinen güt'gen Tropfen mir
Zu gönnen, der mich zu dir brächt'!"
„Veronika," sagte er leise, „laß das, oder —"

Es waren viele Menschen um sie, deren Augen
bisweilen auf ihnen ruhten.
Veronika sah sich nach ihnen um. Dann nahm
sie leise seine Hand und entgegnete mit derselben
Frage: „Oder —"
Und als er des Nachts schlaflos in seinem Bett
lag, begann er zu grübeln und diesen Vorgang nach
seiner Art zu zerfasern.
Das Stück allein konnte es nicht gewesen sein,
denn auch während der berühmten Balkvnszene hatte
sie ruhig neben ihm gesessen und mit ihrem Fächer
gespielt; aber als dann der letzte Akt kam, in dem zwi-
schen Romeo und dem Apotheker über ein schnell-
tötendes Gift verhandelt wird:
„Solch scharfer Stoff,
Der schnell durch alle Adern sich zerteilt,
Daß tot der lebensmüde Trinker hinfällt —"
da hatte Veronika sich atemlos lauschend über die
Brüstung der Loge gebeugt, und aus diesem Augen-
blick ward jene Stimmung geboren, die dann später
unter dem Einfluß des Weines ihren letzten Aus-
druck fand.
Janson hätte alles andere eher für möglich ge-
halten als eine faszinierende Einwirkung dieser Gift-
szene auf Veronikas Phantasie. Denn es gab einen
sehr dunklen Punkt in ihrem Leben, wo der „scharfe
Stoff" eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte,
und wenn auch die menschlichste aller Regungen,
wenn auch das Mitleid ihr damaliges
Handeln entschuldigte, so mußte sie doch
bestrebt sein, die Erinnerung daran in
ihrem Gedächtnis auszulöschen.
Es wäre begreiflich gewesen, wenn
sie gestern abend das Theater verließ,
anstatt ihre Augen und Ohren an die
Bühne zu heften, wie wir es bei dem
Aufleuchten bengalischer Flammen oder
unter dem Eindruck einer einschmeicheln-
den Musik zu tun pflegen.
Und wiederum stieg in Janson die
Ahnung auf, daß hier ein psycho-
pathisches Element, ein krankhaftes
Gefühlsleben seinen halb unbewußten
Ausdruck gefunden habe. —
Am folgenden Morgen war Vero-
nika unpäßlich. Sie ließ Janson durch
das Zimmermädchen sagen, daß sie den
Vormittag im Bett bleiben werde. Es
habe aber nichts weiter zu bedeuten,
gegen Mittag würde alles wieder gut
sein.
So ging er allein in die Stadt und
tat die ersten Schritte wegen der Über-
fahrt nach New York, denn dieses ewige
Nebelklima begann ihm auf die Nerven
zu fallen, und er schob auch Veronikas
Unwohlsein auf den Einfluß der Wit-
terung.
Als er zum Lunch in das Hotel zu-
rü «Kehrte, ließ Veronika ihn zu sich rufen.
Sie sah in einem wundervollen Spitzen-
neglige am Kamin; ihre Haare fielen
aufgelöst über die Lehne des Sessels,
und das feine Gesicht war etwas blasser
als gewöhnlich; sonst merkte man ihr
keine Spur einer Krankheit an.
„Setz dich zu mir, Richard," sagte
sie mit weicher frauenhafter Zärtlich-
keit. „Ich muß dich um Nachsicht wegen
meines Anzugs bitten. Aber du bist
ja Arzt, und vor dem braucht man
sich nicht zu schämen."
Er nahm Platz und griff nach ihrem
Puls, der ein wenig flatterte. „Brauchst
du meine Hilfe, Veronika?"

vr. Friedrich sacobsen, ru seinem 60. öeburtstag. (5. 174)
Nach einer Nholographie von Hosphoiograph Heinrich Hine in Nensburg



VIII. 1SIL
 
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