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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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Var Luch fülMe
Bustriette fsmilienreitung
21. stest. 1914.
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sterrensecht.
stoman von stenriette v. Meerheimb.

(rottleliung.) — (Nachdruck oerboteu.)

5echstes Kapitel.
rau van der Leyen teilte sehr bald ihre
Bedingungen mit. Fräulein v. Redwitz
habe außer der Krankenpflege der Kohlen-
arbeiter ihr in ihrer freien Zeit Gesell-
schaft zu leisten und auch an den Festen

KI
in ihrem Hause teilzunehmen, und zwar in Gesell-
schaftstoilette, nicht in Schwesterntracht. Im Fall
ihr kleiner Enkel — ihr Sohn, Herr Jürgen van
der Leyen, sei Witwer —- erkranke, müsse Fräulein
v. Redwitz seine Pflege übernehmen, bis andere
Hilfe herbeigeholt worden sei.
Ilona fand diese Forderungen keineswegs an-
genehm. Sie hatte gehofft, von Familienanschluß
gänzlich verschont zu bleiben. Aber das hohe Gehalt
lockte. Sie schrieb ihre Zustimmung und bestimmte
den Tag der Abreise.


In Glatz schienen Großmutter und Mutter merk-
würdigerweise ganz einverstanden mit allem zu sein.
Die Gräfin Ponikau wurde durch die Aussicht ver-
söhnt, daß Ilona doch nicht nur Kohlenarbeiter
pflegen, sondern auch an dem Gesellschafts- und
Familienleben der van der Leyen teilnehmen sollte.
Frau v. Redwitz jammerte zwar etwas, aber darauf
hörte niemand mehr recht hin.
Eine heftige Erkältung der kleinen Mascha zwang
Ilona, noch ein paar Tage in Kaderzin zu bleiben,
denn Victoire verlor in solchen Fällen stets den Kopf
und die polnische Wärterin ebenfalls. Dadurch
konnte Ilona ihrer Mutter und Großmutter in

Glatz nicht persönlich lebewohl sagen, sondern mußte,
um den Termin ihrer Ankunft in Verviers nicht
hinauszurücken, von Kaderzin direkt nach Belgien
reisen.
Die letzte Woche war in friedlicher, aber bedrückter
Stimmung in Kaderzin verflossen. Das Ehepaar
ging vorsichtig umeinander herum, weil jedes sich
vor einer neuen Szene scheute. Victoire sagte der
Schwester zwar zärtlich adieu, aber Ilona fühlte
genau durch, wie verstimmt Victoire im Grunde
ihres Herzens gegen sie war. Die kleinen Mädchen
dagegen wollten die Tante gar nicht fortlassen und
weinten laut. Ilona fühlte ihre Augen naß werden
und ging rasch die Treppe hinunter.
Lauenstein stand bereits im Mantel auf der
untersten Treppenstufe. Er stieg auf den Bock.
Die Schimmeljucker rissen den leichten Jagd-
wagen rasch durch die Parkwege.
Ilona sah zurück. Da lag das Haus im blassen
Herbstsonnenschein. Der Wind zauste au den fast
entblätterten Weinranken. Wenn er durch die Aste
der Bäume strich, tanzte ein Goldregen durch die
Luft.
„Vor vier Monaten fuhren wir auch mit den
Juckern," sagte Ilona.
„Als du kamst, war's Sommer. Jetzt ist's Herbst,
bald Winter," antwortete er in einem so schwer-
mütigen Ton, daß Ilona den Doppelsinn seiner
Worte wohl heraushörte.
Im Dorf grüßten die Frauen. Tie Kinder
liefen dem Wagen nach. An den Abflußleitungen
für die Ställe wurde eifrig gearbeitet. Der Bau
der Kleinbahn war schon in Angriff genommen.
Vom Felde her kam der Rauch der Lokomotive,
die den Dampfpflug an breiten, eisernen Bändern
über den Acker zog. Tief fuhren die blanken Eisen

der Pflugschar in die weiche Erde und warfen die
braunen Schollen nach beiden Seiten kräftig aus-
einander.
Dieser Aufschwung bedrückte aber nur Ilonas
Herz. Doch was nützten jetzt noch Warnungen oder
Vorstellungen?
Erst ganz zuletzt, als sie schon auf dem Bahnsteig
angekommen waren, hielt Ilona dem Schwager
die Hand hin. „Hans," mit ernster Bitte sah sie
ihm in die Augen, „versprich mir etwas."
„Was denn, Ilona?"
„Daß du dich an mich wenden willst, wenn du
in eine schlimme Lage geraten und mit verzweifelten
Entschlüssen ringen solltest."
„Wie kannst du mir helfen? Du quälst dich selbst
einsam und tapfer durchs Leben!"
„Gib mir trotzdem dein Wort, Hans."
„Gut, Ilona, ich verspreche es dir. Aber warum
willst du dich auch noch mit meinem Unglück be-
lasten?"
„Du bist der Mann meiner Schwester, der Vater
der Kinder, die mir fest ans Herz gewachsen sind.
Stets bin ich zn jedem Opfer für euch bereit," ent-
gegnete sie ernst.
„Wer nicht liebt, der kann sich nur opfern, nicht
hingeben," murmelte er so leise, daß die Worte nur
wie ein Hauch an ihr Ohr klangen.
„Ich habe euch alle sehr lieb," sagte sie einfach.
„Und nun leb wohl, Hans. Ein langes Verabschieden
kann ich nicht ausstehen. Tu mir die Liebe und
fahre sofort zu Victoire zurück. Behandle sie gut, denke,
du hättest vier Kinder statt drei. Sie ist wirklich
auch nur ein Kind, dem man nicht böse sein darf."
„Ilona, mit dir geht unser guter Engel von uns."
„Von einem Engel habe ich herzlich wenig an
mir. Sei nicht sentimental, Hans!"


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