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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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Illustriette fsmilienreitung
19. liest. 1914.
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öroßadmiral v. Köster, ru seinem 70. öeburtstag. (5. qip)
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stomgn von stenviette o. Meerheimd.
trorlseftung.) : lNschdruNr verboten.)

beugte sich über die kleinen, welken Hände
I Wj Großmutter. „Das tue ich auch. Aber
/Wn ohne ihre Güte anzunehmen. Laß mir doch
«IlW die Freude, Geld zu verdienen und euch da-
WMIs durch das Leben etwas angenehmer zu
machen."
„Das tust du am besten, wenn du dich gut ver-
heiratest. Dann schicke uns, was du willst. Aber von
deinen paar Groschen, die du als Pflegerin verdienst,
möchte ich nichts haben. Das ist ja "so wenig, daß
es sich gar nicht lohnt."
„Wer weiß. Gelernte Pflegerinnen bekommen
oft sechs bis acht Mark täglich. Auf vielen Gütern
oder in Fabrikgegenden werden ständige Pflege-
rinnen für die Arbeiter gehalten. Das wäre ganz
mein Geschmack, in solchem kleinen Haus für mich
zu leben und die Leute zu pflegen."
„Du bist total übergeschnappt!" schalt die alte
Gräsin. „Verfuch's doch wenigstens erst einmal, ob
du bei Poninskys oder Wengerskys keine passende
Partie findest. Die Pflegerin läuft dir nicht davon."
Ilona wollte eine abweisende Antwort geben,
denn diese Vorschläge der Großmutter beleidigten
ihren Mädchenstolz aus das empfindlichste,
als das kurze, scharfe Rollen eines Wagens
hörbar wurde. Auf dieser stillen Straße
gab's so wenig Verkehr, daß alle unwill-
kürlich aufhorchten.
Ilona sprang auf und sah aus dem
Fenster. „In Glatz ist die Neugier ver-
zeihlich," meinte sie halb entschuldigend,
indem sie den Tüllstore zurückzog.
Der Wagen, eine klapperige Droschke,
mit einem mageren Fliegenschimmel be-
spannt, hielt vor dem Hause still. Eine
Dame mit einer Reisetasche in der Hand
sah zu den Fenstern hinauf und winkte
Ilona einen Gruß zu.
„Kommt Besuch? Wer ist's denn?"
fragte die Gräfin Ponikau.
„Es ist Victoire," antwortete Ilona.
„Warum hat sie uns nur nicht geschrieben,
daß sie uns besuchen will? Ein verdrehter
Einfall!"
„Gewiß ist irgend etwas passiert!" rief
Frau v. Redwitz erschrocken. „Wir sind ja
vom Unglück verfolgt. Vielleicht ist Kader-
zin abgebrannt oder —"
„Oder eine Sintflut hat alle verschlungen
bis auf Victoire, die nun kommt, um uns das
zu erzählen," sagte die alte Gräfin lachend.
„Warum du nur immer unken mußt, liebe
Tochter? Du rufst das Unglück ja förm-
lich herbei! Ist es nicht ganz natürlich, daß
Victoire sich nach uns umsehen will? Klingle
nach Doris, Ilona, damit sie den Koffer
heraufträgt."
„Ich gehe lieber selbst und helfe Vic-
toire," antwortete Ilona. „Wenn ich sie
recht kenne, kann sie ohne Schwierigkeiten
nicht den Kutscher bezahlen. Ein Wun-
der, daß sie überhaupt richtig angekommen
ist. Sie ist der unpraktischste Mensch von
der Welt."
„Das arme Kind!" bedauerte Frau
v. Redwitz, während ihre Mutter stürmisch
nach Doris klingelte.
Ilona traf die Schwester, wie sie richtig
vermutet hatte, in peinlicher Verlegenheit.

In Victoires Portemonnaie befanden sich nur noch
wenige Pfennige. Ihr übriges Geld verwahrte sie
sehr sicher an einer anderen Stelle. Aber wo? Ob
im Koffer, in der Reisetasche oder in einem Leder-
beutelchen unter der Taille, dessen konnte Victoire
in der Verwirrung sich nicht mehr entsinnen. Ner-
vös knüpfte sie an ihrer Jacke herum und sah dann
wieder in der Tasche nach, ohne zu einem befriedigen-
den Resultat zu kommen.
„Geh nnr. Ich werde das mit dem Kutscher ab-
machen," sagte Ilona, indem sie der Schwester die
Hand gab.
Victoire wollte sie umarmen, aber Ilona wandte
sich rasch ab, weil sie die Aufregung der Schwester
bemerkte. „Mach keine Szene!" bat sie schnell.
„Unsere Nachbarn, Fräulein Schütte an der Spitze,
stehen alle am Fenster und sehen voller Neu-
gierde zu."
Victoire raffte ihr viel zu langes Kleid auf,
nahm die Reisetasche in die Hand, stellte sie aber
unschlüssig wieder hin, weil sie ihr zu schwer war, und
entschloß sich endlich, ins Haus zu gehen.
Frau v. Redwitz kam der Tochter mit ausge-
breiteten Armen entgegen. „Meine gute, liebe
Victoire! Was ist geschehen? Ist jemand krank ge-
worden bei euch? Warum ist dein Mann nicht mit-
gekommen? Ach, und wie blaß und müde du aus-
siehst!"
Dieser wohlbekannte bemitleidende Ton gab Vic-

toires überreizten Nerven den Rest. Sie brach in
krampfhaftes Schluchzen aus, indem sie der Mutter
um deu Hals fiel.
Frau v. Redwitz, die Gräfin Ponikau und Doris
bemühten sich um die fassungslos Weinende. Vic-
toire wurde aufs Sofa gelegt, man zog ihr die
staubigen Schuhe aus, hielt ihr ein mit Kölnisch-
wasser getränktes Taschentuch an die Nase, und
Doris brachte ein Glas Wein herbei.
Aber Victoires Schluchzen wollte nicht aufhören.
Müde sah sie aus, mit tiefen Schatten unter den
Augen, ganz und gar gebrochen und traurig. Ihre
Antwort auf alle besorgten Fragen lautete immer
nur: „Ich kann es in Kaderzin nicht mehr aushalten
—- ich kann nicht mehr!"
„Was kannst du denn nicht aushalten?" fragte
Ilona scharf. Sie hatte inzwischen den Kutscher
abgefertigt und stand jetzt mit Reisetasche und Hut-
schachtel ebenfalls vor dem Sofa.
„Das ganze Leben dort, die schreckliche Be-
völkerung, deren Sprache man nicht versteht, die
polnische Nachbarschaft, die Zustände im Hause. Die
Mamsell und die Bonne sind fortgelaufen. Die
Kinder konnten sich nicht an das neue Fräulein
gewöhnen. Immer bei mir wollen sie sein — und
sie machen mich doch so nervös mit ihren vielen
Fragen und dem ewigen Lärm. Hans ist beständig
auf der Jagd oder bei der gräßlichen Wera Oblonsky.
Um mich kümmert er sich gar nicht. Er liebt mich
nicht mehr, er —"
Jetzt wurde Victoires Schluchzen wie-
der so heftig, daß nichts deutlich zu ver-
stehen war. Ihre kleinen Hände zupften
nervös an der Federboa, die sie trotz der
Hitze um den Hals geschlungen trug.
Frau v. Redwitz weinte vor Angst und
Erregung über den Zustand der Tochter
mit. Die Gräfin Ponikau schüttelte miß-
billigend den Kopf.
Ilona stampfte ungeduldig mit dem
Fuß auf den Boden. „Nimm dich doch
zusammen!" herrschte sie die Schwester
an. „Schämst du dich nicht, deinem Mann
fortzulaufen, weil du ein paar Schwierig-
keiten zu überwinden hast? Was seid ihr
nur für Menschen! Nichts könnt ihr!
Elgar konnte sich nicht zusammennehmen
und von feiner Spielpafsion lassen, du
kannst die Wirtschaft nicht führen, kannst
deine Kinder nicht um dich haben, Hans
kann die Landwirtschaft nicht lernen! Sagt
doch einmal,Jch will!", anstatt immer ,Jch
kann nicht!" Erbärmlich ist das geradezu!"
„Du hast gut reden. Du bist hier be-
haglich bei Mutter und Großmutter!"
schluchzte Victoire. „Komm doch nach
Kaderzin und sieh dir an, wie's da zugeht!"
„Gern. Ich würde die Wirtschaft und
dir den Kopf bald zurechtrücken und so
lange arbeiten, bis die Verhältnisse sich
nach meinem Willen geändert hätten. —
Na, jetzt trink das Glas Wein und höre mit
der Heulerei auf. Deinem Mann kann ich
es nicht verdenken, daß er aus dem Hause
läuft, wenn du ihm ewig etwas vorklagst."
„Wir hätten die Heirat nie zugeben
sollen," seufzte die Gräfin Ponikau. „Vic-
toire konnte eine viel bessere Partie
machen."
Ilona hielt sich die Ohren zu. Diese
Reden der. Großmutter reizten sie stets.
Sie fuhr fort: „Victoire, du kannst in
meinem Bett schlafen. Ich lege mich aufs
Sofa. Während ich alles zurechtmache,
weine dich bei Mama und Großmama aus.

XIX. 1814.
 
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