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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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192 - -

gUgt, während die Damen sich nach dein Diner in
dem märchenhaft eingerichteten Mufiksalon zu ver-
sammeln pflegten.
c» dritten Tage der Fahrt machte Vervnika den
Vorschlag, eme Flasche Sekt vor dem Schlafengehen
Janson hatte nichts dagegen, aber als sie den be-
treffenden Raum betraten, bot sich ihnen eine etwas
peinliche Szene.
Ein junger Russe, dessen gesellschaftliche Formen
ohnehm etwas brüchig waren, hatte sich total be-
trunken und wurde gerade von zwei Kellnern in
seine Kabine befördert. Man machte das natürlich
möglichst diskret, aber Janson hatte doch genug daran
und schlug Veronika statt der Flasche Sekt eine Pro-
menade auf dem Oberdeck vor.
Sie folgte ihm schweigend.
Es war eine windstille Nacht, wie denn über-
haupt diese Reise sehr vom Wetter begünstigt wurde,
und als die beiden ein paarmal aus und ab gegangen
waren, sagte Janson plötzlich: „Das Widerwärtige
einer solchen Szene kommt einem erst ganz zum
Bewußtsein, wenn man in den Frieden der Natur
hinaustritt. Ich begreife nicht, wie ein Halbwegs
gebildeter Mensch sich so weit vergessen kann."
Veronika nahm seinen Arm. „Vielleicht konnte
er nichts dafür, Richard. Es kommt doch vor, daß
andere einem harmlosen Zecher etwas in den Wein
mischen, und plötzlich hat er die Besinnung verloren,
er weiß selbst nicht wie."
„In unseren Kreisen macht man nicht solche
Bauernscherze," entgegnete er barsch.
Nun sprach sie leise und zögernd: „Nein, nicht
aus Scherz. Aber lassen sich nicht Fälle denken, wo
ein bestimmtes Ziel erreicht werden muß — ich sage
,mußh Richard— und in denen schließlich der Zweck
das Mittel heiligt?"
Das kam so seltsam heraus, daß er stutzte und sie
forschend anblickte. Aber die Nacht verschleierte ihre
Züge, und so fragte er nur hastig: „Hast du dergleichen
erlebt, Veronika?"
„Ja."
,Mann und wie? Ich will es wissen!"
Sie war plötzlich wieder die Sphinx, deren Wesen
ihm täglich neue Rätsel aufgab, denn er fühlte, wie
ihr Kopf sich an seine Schulter schmiegte, und er
glaubte auch ein leises Lachen zu hören.
Aber darin konnte er sich getäuscht haben.
„Du willst das also durchaus wissen, Richard?
Dann habe ich keinen Grund, es dir zu verschweigen,
denn es geht dich selbst an. Du weißt doch noch,
was du damals von mir fordertest, als wir uns in
Skagen trafen? Ich sollte mich scheiden lassen von
meinem Manne. Nun, man kann keine Scheidungs-
gründe von der Straße aufsammeln. Aber haben
mußte ich einen, denn es ging um meine Existenz,
und die Kugel, die ich dir zugedacht hatte, rettete
mich nicht vor dir. Was tut man da nicht alles!
Man macht sogar einen Bauernscherz und dreht
mitten in der besten Gesellschaft das Licht aus, um
seinem teuren Gatten ein paar Tropfen in den Wein
zu schütten, damit er sinnlos betrunken wird, damit
es einen Skandal in der Gesellschaft gibt, damit man
dann vor den Kadi gehen kann. Geholfen hat es
freilich nichts —"
Sie brach plötzlich ab und starrte in die Nacht
hinaus.
„Siehst du denn nichts, Richard? Es kommt ganz
weiß über das Meer heran, wie ein Gespenst -
Er merkte sofort, worauf diese Sinnestäuschung
beruhte, denn der Wind war aufgewacht und trieb
eine Nebelwolke vor sich her; aber er ließ sie bei dem
Glauben an etwas Unnatürliches, denn was sie ihm
soeben zugeflüstert hatte, das dünkte ihn auch gegen
die Natur, und er war darüber stumm geworden.
Dann verschwand sie plötzlich von seiner Seite.
Es gab in diesem ungeheuren Bau so unzählige Ecken
und Winkel, daß das Suchen eines einzelnen Men-
schen zur Unmöglichkeit wurde, aber Veronika war
wohl nur hinunter in ihre Kabine gegangen und
würde bald wieder zurückkommen.
Ganz oben, wo die Kommandobrücke das Schiff
überragte, stand eine einsame Männergestalt. Es
war der wachhabende Offizier, dem die Pflicht ob-
lag, Auslug zu halten, und der das Leben von mehr
als zweitausend Menschen in seiner Hand hielt. Er
durfte eigentlich nicht gestört werden, aber Janson
stieg dennoch zu ihm hinauf und knüpfte ein kurzes
Gespräch an.
Ob dieser Nebel eine Gefahr berge, fragte er.
„Nein," entgegnete der Seemann, „Sie dürfen
ganz ruhig sein. Es könnte sich höchstens um ein
entgegenkommendes Schiff handeln, und um diese
Jahreszeit ist die Linie so wenig befahren, daß ein
Zusammenstoß ganz ausgeschlossen erscheint. Übrigens
wäre bei der Größe unseres Fahrzeugs der Gegner
immer im Nachteil, und deshalb fahren wir auch mit
unverminderter Schnelligkeit."

— V35 Luch für- Mle
„Und die Eisberge, Sir?"
Der Engländer lächelte. „Sie haben sich wohl
ein Märchen aufbinden lassen! Es gibt ganz gewiß
Eisberge im Atlantischen Ozean, aber sie kommen
selten so tief herunter, wir müßten jedenfalls schon
davon gehört haben. Ich gebe Ihnen mein Wort,
daß wir übermorgen alles hinter uns haben, und es
wird eine Fahrt sein, wie sie noch niemals gemacht
worden ist." —
Um Mitternacht, als die Hundewache begann,
wurde es doch unbehaglich an Deck, und Janson be-
gab sich in die Kabine.
Veronika schlief. Eine kleine Veränderung war
mit ihr vorgegangen, sie trug nämlich wieder die
seidene Schnur um den Hals, an deren Ende das
Gift geborgen war, und es wäre für Janson ein leich-
tes gewesen, sich der Phiole zu bemächtigen, denn
er brauchte nur sein Taschenmesser zu nehmen, um
den Faden durchzuschneiden. Aber dann dachte er
an ihren leichten Schlummer und an das Entsetzen
ihrer Augen, wenn sie aufwachte und den kalten
Stahl an ihrer Haut fühlte. Sie hatte schon selbst
getötet und nach dem Leben getrachtet — es mußte
schrecklich sein, in der ersten Verwirrung zwischen
Traum und Wachen eine Waffe über sich zu sehen.
Janson legte sich nieder und ließ das Licht
brennen; aber seine Augen schlossen sich nicht, sie
mußten immer wieder nach dem schönen Weibe hin-
überblicken, das kaum zwei Schritte entfernt von
ihm leise und ruhig atmete.
Er fühlte deutlicher als je, daß nur ihre Schönheit
ihn gefesselt hielt, und er wurde mit Grausen inne,
daß jede Gemeinschaft zwischen ihm und ihr erlöschen
mußte, wenn der Tag kam, an dem die Leidenschaft
starb. Aber es war nicht möglich, daß die Flamme
alsdann in Asche zusammensank, sondern sie mußte
sich eine andere Nahrung suchen, gleichwie das auf-
gestörte Herdfeuer nach dem Gebälk des Hauses em-
porleckt, .in dem es wärmen und leuchten soll.
Auflodernder Haß in der Brust eines Weibes wie
Veronika war der Tod.
Als Janson an diesem Punkt seines Grübelns
anlangte, überkam ihn eine beklemmende Angst, denn
es war ihm, als ob die ganze Vergangenheit Vero-
nikas urplötzlich von einem blendenden Licht über-
gossen wurde, das auch in die verborgensten Winkel
hineinleuchtete.
Es gab keine Geheimnisse mehr darin, es wurde
Ursache und Wirkung klar, und was man bisher auf
ein Walten der Natur geschoben hatte, das gestaltete
sich als der Ausfluß eines verirrten Menschenwillens

Beim Lunch verkündete der Kapitän der ganzen
Tafelrunde, daß die kommende Nacht die letzte zwi-
schen Himmel und Wasser sein werde, und wenn auch
das Leben an Bord einem Rosenkranz von Festen
geglichen hatte, so jubelten doch alle auf, und die
Kellner mußten Sekt bringen, damit man auf das
Wohl dieses schnellsten aller Schiffe drei donnernde
„Cheers" ausbringen konnte.
Dann hatten die Damen das Wort, denn es fehlte
noch die bis zuletzt aufgesparte Königin aller Freuden.
Ein Ball!
Lächelnd sagte der Kapitän zu. Es war natürlich
alles dazu vorhanden: der spiegelglatt parkettierte
Saal, die Fülle von Blumen und Licht, eine wohl-
geschulte Schiffskapelle; und was an Perlen und
Juwelen in diesem Kreis der Millionäre zusammen-
getragen werden konnte, damit hätte man den Jam-
mer von Hunderttausenden stillen können.
Die Zofen, die Kammerkätzchen und die Stewar-
dessen bekamen alle Hände voll zu tun.
Während im Innern des Riesenschiffes eine fast
atemlose Stille der Erwartung lagerte, ging der alte,
weißbärtige Kapitän an Deck, um die Meldungen
seiner Untergebenen entgegenzunehmen.
Die Dämmerung brach gerade herein, es lag kein
Nebel auf dem Wasser, man konnte eine klare und
sternenhelle Nacht erwarten.
Der erste Offizier trat heran und legte seine Hand
an den Mützenschirm. „Wir sind soeben von einem
Schiff angerufen worden, Kap'tän. Man hat Eis
gesehen."
„URU. Lassen Sie die Wassertemperatur auf-
nehmen."
Nach einer Weile wurde das Ergebnis gemeldet,
und die beiden Seeleute sahen einander bedeutrings-
voll an.
Dann stellte der erste Offizier eine Frage: „Halb-
dampf, Kap'tän?"
„Geht nicht Sie wissen ja. Wenn wir nicht
jemand an Bord hätten, der —"
„Freilich! — Also durch?"
„Jawohl. Es gilt das blaue Band des Ozeans.
Übrigens kann sich's nur um ein paar Schollen han-
deln, und die matschen wir zusammen wie Eier-
schalen."
„Zu Befehl, Kap'tän." —

__ — Mt 9
Das Diner fiel diesmal sehr kurz aus. Schon
bevor der Nachtisch serviert wurde, quollen dre Klange
des Hochzeitsmarsches aus dem Lohengrm vom Ball-
saal herein, und die Damen blickten ungeduldig auf
den Kapitän, der mit unerschütterlrcher Ruhe dre
Spitze der Tafel einnahm. .
Veronika faß heute neben rhm, denn er ließ diese
besondere Ehre reihum gehen, und wenn er heute
das Fest durch die Schönheit krönen wollte, so hatte
er keine bessere Wahl treffen können.
Die junge Frau sah entzückend aus. Sre trug
ihr weißseidenes Hochzeitskleid, das rn aller Erle ball-
fähig gemacht worden war, aber obwohl sre den
Schmuck sonst liebte, hatte sie nur eine lange ferne
Goldkette um den Hals geschlungen, deren Enden
in dem Ausschnitt versanken.
Der Kapitän, dem seine Jahre ernen Scherz ge-
statteten, fragte, welches holde Geheimnis sre dort
verborgen habe.
„Ein Amulett," entgegnete sie.
Dann rauschten die Schleppen, und der Herr des
Schiffes führte die Königin des Abends in den Ball-
saal hinüber.
Als die Polonaise getanzt war, verabschredete er
sich von seiner Dame, nnd ans ihre verwunderte Frage
murmelte er etwas vom Dienst, dessen Uhr ewig
gleichgestellt sei.
Dann hat sie ihn nur noch ein einziges Mal
wiedergesehen. —
Er ging an Deck und betrat die Kommandobrücke.
Das Wetter hatte sich ein wenig verändert, die Luft
war nicht mehr so durchsichtig wie zuvor, aber der
eherne Koloß jagte mit unverminderter Eile durch
den schwarzen Ozean, wie ein Eber blindlings dahin-
rast, wenn die Meute der Hunde ihm auf der Fährte
ist. Und dennoch gab es nichts auf dem weiten Erden-
rund, das dieses Schiff zu einer Hetzjagd treiben
konnte, es mußte denn der Rekordwahn fein, den
eine hirnkranke Zeit geboren hat.
Bisweilen quollen Walzerklänge aus dem Bauche
des Ungetüms herauf. Dann schüttelte der alte
Mann mit dem steinharten Gesicht leise das Haupt
und lauschte angestrengt in die Nacht hinaus: auf
den Schrei des Seevogels, der seine Stimme erhebt,
wenn eine ungewöhnliche Begebenheit den Frieden
der Natur stört.
Plötzlich schwebte etwas heran.
Das war so lautlos und geisterhaft, das war so
weißleuchtend und ungeheuerlich gestaltet, daß der
fliegende Holländer dagegen zum Kinderspott zu-
sammenschrumpfte; und es kam nicht einhergefchossen,
wie die Möwe fliegt und der Albatros, sondern seine
ruhige Majestät verriet die ihm innewohnende Kraft
— die furchtbare, elementare, die alles vernichtende
Kraft.
Der Kapitän war mit einem Sprung am elek-
trischen Apparat.
„Maschinen stopp! Mit Volldampf zurück!" —
Den Donauwalzer spielten sie da unten, und die
Schleppen fegten über das Parkett. Es war ein
Flirren und Leuchten von heißen Augen und kalten
Diamanten, es war ein Duften und Blühen von
Rosen und Kamelien.
Als wenn alle geahnt hätten, daß der Freuden-
becher auf die Neige ging, so jubelten sie und lachten,
und dann brach die Musik plötzlich mitten im Takte
ab, und die Paare standen unter dem Kronleuchter
zusammengedrängt — atemlos lauschend.
Hatte nicht jemand in den Saal hineingeschrien?
Etwas vom „Wasser"?
Ach, es war wohl nur eine Dame ohnmächtig ge-
worden, und der Kavalier rief nach einem Glas
Wasser.
Wer schreit denn da gleich so!
Aber da kam der Schrei wieder — zehnfach, hun-
dertfältig — wie das Geheul wilder Tiere: „Das
Wasser kommt! Das Schiff sinkt!"
Alle Ordnung und alle Besinnung war aufgelöst.
Wie eine Schar Irrsinniger drängte sich der ganze
Haufe durch die Korridore, über die Treppen —
nach oben, nach oben! Im Nu wimmelte das Deck
von Menschen, und immer neue Scharen quollen von
unten herauf: finstere Gestalten, die man während
der ganzen Fahrt niemals beachtet hatte, Zwischen-
deckpassagiere, Unterirdische, Paria!
Das Schiff fei auf einen Eisberg gerannt, hieß
es, der seine scharse Zunge weithin unter Wasser
ausstreckte; es habe sich den Leib aufgerissen — der
ganzen Länge nach.
Und da stieg sie auch schon drohend empor, die
stahlharte, schimmernde, unbarmherzige Wand — so
nahe, daß die Hand danach tastete, so kalt, daß der
Odem davor erstarrte.
Und das Schiff neigte sich, wie ein Zwerg vor
dem Riesen sich neigt.
„Zu den Booten —- zu den Rettungsbooten!"
Heldentaten wurden vollbracht, die wie eine Mär
von Mund zu Mund gehen.
 
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