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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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522 / . .—" — Va8 Such fül- Hile

lieft 24

Ackerschollen der Felder saßen hungrige Krähen und
hackten gierig nach halbversaulten Rübenresten. Da
ragte auch schon das geteerte Sichtungswerk, der
mit Schiefer gedeckte Schachtturm, der Maschinen-
raum mit dem mattroten Schornstein vor Ilona
auf. Mes fah gedrückt und abstoßend aus in dieser
Morgenfrühe.
' Sie trat in das Bureau des Aufsehers, der gäh-
nend mit aufgestützten Ellbogen an seinem Schreib-
tisch saß. „Ich möchte telephonieren," bat sie.
Der Mann nickte nur, ohne aufzustehen. Mit
einer Krankenpflegerin machte er nicht viel Um-
stände. Ilona drehte die Kurbel und hielt den
Apparat ans Ohr.
Gleich darauf tönte Jürgen van der Leyens
Stimme. „Hier van der Leyen. Wer dort?"
„Ilona v. Redwitz. Ich möchte Ihnen etwas
sagen, Herr van der Leyen."
„Bitte etwas deutlicher."
Ilona schluckte ein paarmal. Dann berichtete sie
möglichst deutlich, ohne den mit lässiger Neugier
aufhorchenden Beamten zu beachten: „Gestern
abend besuchte mich ganz überraschenderweise mein
ältester Bruder Elgar. Er kam aus Paris, will
nach Amerika übersiedeln und beabsichtigt, heute
vormittag Ihrer Frau Mutter und Ihnen seinen
Besuch zu machen. Davon konnte ich ihn nicht
abbringen."
„Weshalb auch? Ich werde mich freuen, Ihren
Herrn Bruder kennen zu lernen."
„Sehr gütig. Aber weisen Sie jeden Vorschlag,
jede Bitte von ihm rund ab. Ich kann das nur
dringend raten. Die ganze Sache ist mir unsäg-
lich peinlich."
„Ganz unnötige Skrupel machen Sie sich da.
Wie oft glauben Sie wohl, daß irgendwelche An-
liegen an mich ergehen, schriftlich und mündlich,
jeden Tag zahllose. Ich pflege mir die Herren genau
anzusehen oder eingehende Erkundigungen einzu-
ziehen, ehe ich Bitten gewähre."
„Also Sie sind hiermit gewarnt, Herr van der
Leyen. Ich übernehme keine Verantwortung für
irgend eine Taktlosigkeit."
„Ihre Stimme klingt sehr erregt, Fräulein
v. Redwitz. Dazu ist doch kein Grund vorhanden!"
„Versprechen Sie mir, Elgar keine Bitte zu
erfüllen."
„Ohne Ihre Zustimmung nicht."
„Dann bin ich beruhigt, denn die werden Sie
nie bekommen. — Wie geht's Manfred?"
„Danke. Er schlief leidlich in der Nacht und
erwartet Sie sicher heute abend zum Dominospiel.
Ausdrücklich bitteb er um kein Schwesternkleid. Ich
schließe mich der Bitte an. Mein Sohn und ich
haben den gleichen Geschmack und Schönheitsinn."
„Ja, ja. Ich ziehe gern an, was Sie wollen."
„Danke!"
Der Apparat klingelte ab. Mit etwas leichterem
Herzen ging Ilona ins Dorf zurück. Absichtlich
machte sie einen Umweg, um nicht an dem Schuppen
mit dem Reiseauto vorübergehen zu müssen. Früher
als gewöhnlich trat sie ihren Rundgang an.
In den meisten Häusern gab's jetzt magenkranke
oder hustende Kinder. Überall empfingen sie jam-
mernde Mütter, heulende Frauen und Mädchen,
die den Streik längst verwünschten. Auch die
Familienväter würden vielleicht die Arbeit schon
wieder ausgenommen haben, aber die ledigen Ar-
beiter, zum größten Teil junge Burschen zwischen
sechzehn und zwanzig Jahren, litten das nicht,
sondern schürten die Flammen des Widerstandes und
der Unzufriedenheit, wenn sie zu verlöschen drohten,
immer wieder zu Hellem Brande an.
Aber die Gelder der Streikkassen, die jetzt von
allen Seiten in Anspruch genommen wurden,
flössen nur spärlich. Ersparnisse besaßen die wenig-
sten Familien.
Schon mußten die Frauen Schulden bei dem
Bäcker und Kaufmann im Dors machen. Gaben die
keinen Kredit mehr, dann wurden Stücke des Haus-
rats versetzt, die Federn der Betten, ein Teil der
Wolle aus den Matratzen verkauft. Die Männer
waren der ewigen Lauch-, Kohl- oder Zwiebel-
suppen überdrüssig, Fleisch kam schon lange nicht
mehr auf den Tisch, seitdem der Verdienst fehlte.
Darum liefen sie immer häufiger in die Wirts-
häuser, so wenig behaglich die auch aussahen.
Alles roch nach schlechten Zigarren und nassen
Kleidern. Aber trotzdem war's dort doch noch besser
als im eigenen Hause, wo die Frau zankte und die
Kinder heulten.
Das elegante Auto, das der gut gekleidete
Chauffeur aus dem Schuppen zog, erregte bald die
Neugier der müßig auf den Straßen umherstehenden
Arbeiter. Kinder, Frauen und Männer umringten
es, als Elgar v. Redwitz aus dem Schuppen heraus-
trat und dem Chauffeur befahl, die steile Höhe zur
Billa hinaufzufahren.

„Das ist auch so ein Nichtstuer, der von unserem
Schweiß lebt!" schrie einer der Arbeiter.
„Oder ein Spion, ein Polizeispitzel, der zur Villa
hinauffährt."
Niemand gab sich die Mühe, die Sinnlosigkeit
dieser Behauptung zu begründen oder zu widerlegen.
Sie genügte, um einen Ausbruch der in den Ge-
mütern kochenden Wut zu entfesseln. Schmutz-
klumpen, Schneeballen, hartgefrorene Erdschollen
flogen gegen das Auto.
„Fahren Sie rücksichtslos vorwärts!" rief Elgar
v. Redwitz beim Einsteigen dem Chauffeur zu.
Schreiend und schimpfend stob die Menge aus-
einander.
Durch die Glasscheibe an der Rückwand sah
Elgar die drohend geballten Fäuste, die wutver-
zerrten Gesichter, bis die Biegung des Weges sie
seinen Blicken entzog. „Zwischen diesem rohen
Volk zu leben, mag auch gerade kein Vergnügen
sein," dachte er. Aber als er die Villa van der
Leyens betrat, änderte er diese Ansicht.
Erstaunt sah er sich um. Dieser Luxus impo-
nierte ihm denn doch. Freilich, für solche Umgebung
konnte man schon das rußige Kohlendorf und die
unsauber«. Leute mit in Kauf nehmen.
Er hieß den Chauffeur warten und ließ sich in
der Vorhalle von dem Diener den Mantel ab-
nehmen.
„Herr van der Leyen erwartet den gnädigen
Herrn in seinem Schreibzimmer," meldete ein
zweiter Diener.
Jürgen van der Leyen verbeugte sich leicht vor
seinem eintretenden Gast. „Der Bruder von Fräu-
lein v. Redwitz ist mir willkommen," sagte er mit
kühler Höflichkeit. „Ihr Fräulein Schwester ist
mir nicht nur im Grubendorf, sondern auch bei der
Pflege meines Kindes von unschätzbarem Wert."
„Das freut mich aufrichtig." Elgar v. Redwitz,
dem es sonst an Selbstbewußtsein durchaus nicht
mangelte, fühlte sich den klaren, grauen Augen,
die ihn durchdringend musterten, gegenüber bei-
nahe befangen und unsicher. Das passierte ihm
nicht oft. Aber vorschwindeln ließ dieser van der
Leyen sich sicherlich nichts.
Er sprach darum nur in leichtem Plauderton
von seinen Reisen durch Frankreich, seinem Aufent-
halt in Cannes und Monako, seiner Sehnsucht, die
Schwester wiederzusehen. Ilona besäße ein goldenes
Herz, aber freilich auch ein hartes, überspanntes
Köpfchen. Warum wählte sie das mühselige Leben
einer Krankenpflegerin, statt behaglich bei Mutter
und Großmama in Glatz zu bleiben? Die letzteren
hätten ihn beauftragt, sich davon zu überzeugen, wie
die Verhältnisse hier lägen. Er fei glücklich, die
alten Damen mm völlig beruhigen zu können.
Ilona wisse ja nicht genug van der Leyens und seiner
Mutter Güte gegen sie zu rühmen.
Jürgen van der Leyen ließ seinen Gast ruhig
ausreden. Ein leises Lächeln zuckte um seinen Mund.
„Ist das Ihr eigenes Auto, Herr v. Redwitz?" fragte
er statt jeder Antwort. „Vom Fenster aus be-
wunderte ich, wie elegant das Auto den steilen Auf-
stieg nahm. Jst's französisches Fabrikat?"
„Ja — neuestes System. — Aber, verehrter
Herr van der Leyen, Sie überschätzen meine Ver-
hältnisse. Ein eigenes Auto — solch ein armer
Teufel wie ich! Gerade herausgesagt, eine Pariser
Firma stellte mir Auto und Chauffeur für eine Fahrt
durch Belgien. Nachher schreibe ich dann eine Re-
klame dafür. Das ist solch kleiner Nebenverdienst."
„Nun, das ist ja ein ganz angenehmer Beruf,
Reklamefahrer für eine Autofabrik zu sein."
Elgar v. Redwitz ärgerte sich über den etwas
gönnerhaften Ton, in dem van der Leyen mit ihm
sprach. Was war denn dieser Mann? Kohlen-
grubenbesitzer! Noch vor wenigen Jahren wäre es
ihm, dem Herrn auf Kuckuckstein, nicht eingefallen,
mit solchen Leuten zu verkehren. Und jetzt sollte
er sich diese Herablassung gefallen lassen!
Aber die Abfuhr, die er gern dem „Geldprotzen"
hätte zuteil werden lassen, wollte nicht heraus. Mit
verbindlichem Lächeln überlegte er, wie er am
besten das Gespräch wieder auf Ilona lenken und
dabei herausbringen könne, ob van der Leyen sehr
gekränkt über den erhaltenen Korb sei oder ob er
eine erneute Werbung versuchen wolle. Gern
würde er ihn seiner Hilfsbereitschaft und Unter-
stützung versichert haben.
Allerdings sah dieser selbstbewußte Mann sehr
wenig hilfsbedürftig aus.
„Die Verhältnisse der Bergwerkbcsitzer scheinen
in ganz Belgien äußerst schwierige zu sein," fing
Elgar nach einer Pause aufs Geratewohl an. Er
musterte die kostbare Waffensammlung an der Wand
mit raschem Blick. „Nun, jedenfalls sind Sie in
diesem Zimmer gegen tätliche Angriffe geschützt,
Herr van der Leyen. Eine prachtvolle, reichhaltige
Sammlung!"

Van der Leyen nickte nur kurz. „Ja, auf meinen
Reisen habe ich die erworben."
„Halten Sie eine friedliche Lösung des Streiks
in Ihrem Bezirk für wahrscheinlich, Herr van der
Leyen? Ich muß gestehen, die Leute gefielen mir
wenig. Sogar ich harmloser Reisender wurde be-
schimpft, beinahe angegriffen, weil ich einen warmen
Mantel trug und in einem Auto saß. Ist es nicht
gefährlich für meine Schwester, unter diesem rohen
Volk zu wohnen?"
„Erst gestern abend bat ich Ihr Fräulein Schwe-
ster, ganz zu uns heraufzuziehen und bei uns zu
bleiben. Sie lehnte das Anerbieten ab."
„Ja, ja — sie ist ein Starrkopf. — Aber, verehrter
Herr van der Leyen, glauben Sie mir, ich kenne die
Frauen! Vor der Übergabe der Festung tobt der
Kampf immer am heftigsten. Ich brauche wohl
nicht erst zu versichern, daß ich ganz auf Ihrer Seite
stehe! Wirklich — ein Stein fiele mir vom Herzen,
wenn Ilona Ihren Vorschlag annehmen wollte."
„Ich verzweifle noch nicht, Herr v. Redwitz."
Je länger Elgar sich van der Leyen gegenüber
befand, um so klarer wurde ihm, daß dieser Mann
nichts aufgab von dem, was er sich durchzusetzcn
vorgenommen hatte. Wollte er Ilona heiraten, so
kam es dazu — früher oder später. Elgar ließ seine
eigenen Heiratspläne durchblicken und erzählte la-
chend, Ilona sei so erfreut über die Aussicht, daß er,
das schwarze Schaf der Familie, so solid ins Ehejoch
kriechen wolle, daß sie ihm sogar den Familienschmuck
der Großmutter Ponikau, eine kostbare Perlenschnur,
für seine zukünftige Braut aufgedrängt habe.
Eine leichte Röte stieg in van der Leyens Stirn.
Er durchschaute sogleich, daß Ilona den Schmuck
nur hergegeben hatte, um ein Anborgen des Bruders
zu verhindern. Arme, stolze Ilona! Wie schön
sah sie an jenem ersten Abend mit der Perlenschnur
um ihren zartgerundeten Hals aus!
„Schade, daß Ihre Schwester den Schmuck fort-
gab," sagte er nach kurzem Überlegen. „Ich bin
ein Freund und Kenner schöner gleichmäßiger
Perlen. Diese Schnur gefiel mir besonders gut,
als Ihre Schwester sie trug. Liegt Ihnen sehr viel
daran, Herr v. Redwitz, den Schmuck Ihrer zu-
künftigen Braut zu schenken, oder würden Sie ihn
mir überlassen?"
Elgar zog das. Etui aus der Tasche. „Um Ihnen
gefällig zu sein, Herr van der Leyen, tue ich alles."
„Freilich kommen die Perlen dann aus der
Redwitzschen Familie," meinte van der Leyen.
„Aus unserer Familie ist schon mehr heraus-
gekommen als eine Schnur Perlen," rief Elgar
lachend, „und wer weiß, ob —"
Er sprach den Satz nicht zu Ende und sah van der
Leyen nur mit verhaltenem Lachen ins Gesicht.
„Gewiß, man kann nie vorher wissen, wie's
kommt, und wie das Schicksal alles fügt," bestätigte
der mit unerschütterlichem Ernst. Dann bot er eine
Summe für den Ankauf der Perlen, deren Höhe
Elgars Erwartungen so weit überstieg, daß er nicht
schwankte, dem Grubenbesitzer die Perlen dafür zu
überlassen.
Isabel Tailor mußte sich eben mit einem anderen
Schmuck, dem Elgar ja die Ponikausche Grafen-
krone anhängen konnte, begnügen.
„Ich schreibe Ihnen eine Anweisung auf mein
Bankhaus in Brüssel, Herr v. Redwitz." Er warf
ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier.
Elgar v. Redwitz fah mit einem Gefühl des
Neides zu. Mußte das schön sein, so über Tausende
mit einem Federstrich zu verfügen, statt den eigenen
Namen schräg auf Wechsel setzen zu müssen, die
niemand gern annahm! Aber seine Laune hob sich
gleich wieder. Sorgsam verwahrte er den kostbaren
Zettel in seiner Brieftasche und bat dann dringend,
ob er nicht auch Frau van der Leyen, Ilonas mütter-
liche Freundin, aufsuchen dürfe.
„Gewiß. Meine Mutter ist zu Hause und wird
Sie gern empfangen." Jürgen van der Leyen
schloß das Etui in seinem Geldschrank ein. Er setzte
sich nicht wieder, und Elgar suhlte sich entlassen.
Eine Frühstückseinladung erfolgte jedenfalls nicht.
„Schofler Kerl! Na, heute abend in Brüssel
hol' ich's nach," dachte Elgar. Er beschloß, den
Chauffeur uebst Auto in Verviers zu entlassen und
lieber mit der Eisenbahn nach Brüssel zu fahren.
Dabei riskierte er keine Pannen und Reifenbrüche.
Die alte Frau van der Leyen begrüßte den
Bruder ihrer lieben Ilona mit einer gegen ihres
Sohnes kalte Zurückhaltung auffallend abstechenden
Herzlichkeit. Mit gemütlicher Neugier fragte sie
ihn über Ilonas Vergangenheit und die ganze
Familiengeschichte der Redwitzc aufs gründlichste
aus.
Elgar sagte so viel, als er für gut hielt. Mit
einigen Ab- und Zufetzungen läßt sich ja vieles nach
Bedarf Heller und dunkler tönen. Sein Lob der
Schwester klang aber so aufrichtig, daß dieser
 
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