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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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530

V38 Luch fül- MIe -

i tzest 24

faßte es mit leisem Schauer. Das qualvoll verzerrte
Gesicht der Toten, das zerfetzte Kleid, die zur Faust
geballte rechte Hand — alles deutete aus einen ver-
zweifelten Kampf.
Die Leichenstarre war bereits eingetreten.
Jetzt fiel das Auge des Beamten ans das kleine
Wachtelhündchen, das neben der Ottomane lag. In
dem braunen Bärenfell, das sich die Sängerin aus
Rußland mitgebracht hatte, verschwand das zier-
liche Spitzmausköpfchen, so daß man nicht gleich
wahrnahm, wie vollständig zermalmt es war.
Der Wachtmeister wendete sich zurück. „Hat je-
mand von den Hausbewohnern den Hund anschlagen
hören in der Nacht?"
Alle verneinten.
Der Wachtmeister ließ den Blick umherschweifen.
Die Fensterriegel waren geschloffen. Jetzt ver-
weilten die Augen bei der herabhängcnden linken
Hand der Toten. Am Goldfinger war eine kleine
Schramme. Zwei Tröpfchen Blut waren da fest-
getrocknet.
„Trug die Dame Ringe?"
„Jawohl. Einen herrlichen Diamanten."
„Hm, also Raubmord!"
Alles sprach und schrie draußen im Korridor durch-
einander.
Der Wachtmeister machte dem ein Ende, indem
er erklärte: „Das Zimmer wird abgeschlossen und
bleibt unberührt, bis das Gericht hier war. Zu helfen
ist nichts mehr, jetzt kommt's nur darauf an, daß
keine Spur verwischt wird."
Damit schloß er das Zimmer ab und steckte
den Schlüssel ein. Dann öffnete er eine andere
Tür.
„Das Arbeitszimmer," sagte der Stadtrat.
„So — hier kann ich die ersten und notwendigsten
Vernehmungen machen."
Er trat ein, schob an einem eleganten Diplomaten-
schreibtisch Bücher und Papiere beiseite und stellte
den Helm auf den mitten im Zimmer stehenden
schwarzpolierten Flügel.
Als er den Helm etwas hastig niedersetzte, ging
ein leiser, raunender Klang durch die Saiten.
Seine große Brieftasche zog er hervor, schlug sie
auf der Schreibtischplatte auseinander und sagte
dann: „Sie, Schlosser, können jetzt gehen. Alle
anderen bitte ich im Vorflur zu bleiben. Sie, Schu-
bert, lassen sie ein in der Reihe, die ich bestimme. —
Herr Stadtrat, wollen Sie die Güte haben, mir zu-
erst ein paar Fragen zu beantworten?"
„Gern," antwortete der alte Herr und trat
näher.
Der Wachtmeister holte einen hochlehnigen, mit
gepunztem Leder überzogenen Stuhl herbei, stellte
ihn seitlich des Schreibtisches und forderte den Stadt-
rat auf, Platz zu nehmen. Dann begann er: „Sie,
der Besitzer der Villa, kannten Madame Jlsa Pal-
mini und deren Lebensgewohnhsiten genauer?"
„Ja."
„Seit wann wohnte sie hier?"
„Seit zwei Jahren."
„Wann sahen Sie die Dame zum letzten Male?"
„Gestern nachmittag. Sie pflegte uns immer,
liebenswürdig wie sie war, von ihren Gastspielreisen
eine Erinnerung mitzubringen. Sie kam diesmal
aus Rußland und schenkte meiner Frau einen Schal
aus Tiflis, mir eine Meerschaumspitze. Beides brachte
sie uns selbst, heiter und frisch wie sonst."
„Empfing sie oft Besuche?"
„Nein."
„Selbst keine Kollegen und Kolleginnen?"
„Nein. Sie lud uns manchmal zu einer Tasse
Tee in Erwiderung der Gastfreundschaft, die wir ihr
dann und wann boten. Ihr waren selbst die feinsten
Gesellschaften, denen sie nicht ausweichen konnte, und
alle ihr dort entgegengebrachten Huldigungen ein
Greuel. Sie war eine ernste, sogar eine sehr ernste
Künstlerin. Sie nahm ihren Berus gewissenhaft,
stundenlang studierte sie an diesem kostbaren
Flügel."
„Na ja — das ist schön, aber gestern muß doch
hier Besuch gewesen sein. Es muß — nicht
wahr?"
Betreten schwieg der Stadtrat eine Welle. Dann
sagte er: „Nach diesen: schrecklichen Geschehnis —
natürlich!"
„Von dessen Kommen und Gehen haben Sie
nichts bemerkt?"
„Nichts."
„Das Haus wird von der Portierloge aus ge-
schlossen?"
„Ja-"
„Wird dieser Verschluß sorgfältig geübt?
„Ja."
„Dann müßten Rauschers also etwas wissen,
wenn Madame Palmini Besuche empfing."
„Gewiß."
„Ihre Frau Gemahlin, Herr Stadtrat, dürfte

zur Sache nicht mehr angeben können als Sie
selbst?"
„Nein."
„Dann danke ich sehr." Der Wachtmeister ge-
leitete den Stadtrat zur Tür und rief: „Herr Rau-
scher!"
Auch dessen Angaben boten keinen Anhalt.
Er saß fleißig an seiner Schusterkugel, und wenn
er gerade bei der Naht war, sah er nicht groß auf,
wer vorbeiging. Den Kopf eines Vorübergehen-
den sähe man überhaupt nicht gut, meinte er, und
wenn die Glocke ginge, zöge er an dem Messinghenkel.
Zu mehr habe er meist nicht Zeit.
Endlich fragte der Beamte: „Wann war gestern
abend Ihres Wissens ein Besuch bei Madame Pal-
mini?"
Der Schuster wiegte den blanken Schädel.
„Gestern abend — niemand!"
„Denken Sie genau nach. Jemand muß doch
dagewesen sein. Sonst konnte das doch nicht pas-
sieren !"
„Hm, ja — nach sechs Uhr hatte das Mädchen
von Rothes aus der Brunhildenstraße die besohlten
Schuhs der kleinen Grete abgeholt, da kam jemand.
Ich gab gerade Geld 'raus, da klingelte es. Rasch
hab' ich gezogen und dann weitergerechnet —"
„War's ein Männ?"
„Herr Wachtmeister, wenn Sie mich totschlagen,
ich weiß es nicht. Ich hatte Geld auf der Hand liegen,
und das Mädchen zählte nach. Gedacht hab' ich, es
möchte wohl die Marianne gewesen sein, die zum
Abendbrot eingeholt hätte —"
„Sonst kam niemand mehr?"
„Zur Tür herein nicht."
„Wo denn sonst?"
„Na, ich dächte, das Baugerüst machte es bequem
genug —"
„Unsinn! Die Riegel des Fensters waren ja fest
geschlossen."
Aber bedenklich wurde der Beamte doch. Er
hatte nur die Riegel in dem Tatzimmer besichtigt.
Er unterbrach die Vernehmung einen Augenblick
und ging aus dem Zimmer.
Er kam etwas verlegen zurück. In der Badestube
war ein Fensterflügel nur angelehnt. Kurz fragte
er noch: „Also es kam niemand mehr bei Ihnen
vorbei?"
„Niemand."
„Und es ging niemand?"
„Nee."
„Das heißt, Sie haben nichts bemerkt?"
„Nichts."
„Geht dis Tür leise?"
„Na ob, die halt' ich gut geölt!"
Der Wachtmeister hatte mehrere Seiten voll
Notizen, als er seine Vernehmungen abschloß, aber
eine Spur hatte er nicht.
Die gutgeölte Tür fiel lautlos hinter ihm und
dem Schutzmann ins Schloß.
Im Garten blieb er stehen und beschaute das
Gerüst. Dort war das schmale Badestubenfenster,
dort zogen sich die Planken des Gerüstes hin.
„Unmöglich wär's ja nicht!" murmelte er.
S.
Daß der Beamte nicht auch Frau Böhme ver-
nommen hatte, war ein Fehler gewesen. Das zeigte
sich, als der Untersuchungsrichter eingriff.
Dem teilte der Stadtrat aus freien Stücken mit,
was er selbst erst nachträglich erfuhr, seine Frau habe
abends, als sie einen Augenblick in der Küche zu tun
hatte, gehört, wie die Bretter des Gerüstes knarrten,
als ob jemand darüber schliche. Es sei schon finster
gewesen, und als sie ans Fenster trat, habe sie nur
noch ein Rütteln vernommen, als ob jemand die
Leiter hinabstiege, immer wieder dazwischen an-
haltend. Einmal sei es ihr sogar gewesen, als seufzte
jemand. Aber dann hätten der Wind und der Regen
um das Haus gejagt, da hätte sie gemeint, sie habe
sich doch wohl getäuscht.
Landgerichtsrat Reinicke, ein alter Herr mit
ernstem, klugem Gesicht, saß an demselben Schreib-
tisch, an dem wenige Stunden vorher der Wacht-
meister seine Notizen gemacht hatte.
Er horchte hoch auf. „Wann war das?" fragte
er die Dame des Hauses, eine weißhaarige Frau,
die sich fortwährend die Augen trocknete und in
zitternder Aufregung kaum Herrin ihrer Stimme
war.
Einen Augenblick sann sie nach. „Um halb acht
mögen wir gegessen haben," antwortete sie endlich.
„Dann wurde abgcräumt — Marianne hatte in
unserem Schlafzimmer zu tun, und ihr wollte ich eine
Anweisung geben. Da kann es so gegen ein Viertel
auf neun gewesen sein, als ich das hörte."
Der Untersuchungsrichter schrieb. Dann hob er
die bebrillten Augen zu der Frau Stadtrat auf. „Bis
wann wird auf dem Gerüst gearbeitet?"

„Meines Wissens bis sechs Uhr."
„Später ist's ja auch jetzt zu finster. Der Täter
konnte also unbemerkt das Gerüst passieren. —
Die Palmini war am Nachmittag bei Ihnen ge-
wesen?"
„Zwischen fünf und sechs Uhr. Sie habe noch
einen Koffer auszupacken, sagte sie, als sie ging."
„Sie standen freundschaftlich zu der Ermor-
deten?"
„Es war mehr eine mütterliche Freundschaft
meinerseits, Herr Landgerichtsrat. Es konnte ja
nichts anderes sein — Jlsa war siebenundzwanzig,
ich bin sechzig!"
„Um so eher besaßen Sie ihr Vertrauen?"
„Ich glaube das. Denn sie hat mir vieles erzählt
aus ihrer Vergangenheit, das sie —"
„Das nahm ich an, und gerade das ist mir wichtig.
Wahrscheinlich nur so finden wir Spuren. Von
Ihrem Herrn Gemahl weiß ich bereits, daß die Er-
mordete fast ohne jeden Verkehr lebte, daß sie Be-
kanntschaften leichterer Art nicht pflegte —"
„Nein, nichts dergleichen! Nein, kein Gedanke!"
Die alte Dame wurde lebhafter und energischer.
Die Verteidigung der toten Freundin gab ihr Fas-
sung und Entschiedenheit.
„Das war auch Ihre Wahrnehmung?"
„Durchaus! Jlsa war von einer Zurückhaltung,
die mich oft in Erstaunen setzte. Ich lege die Hand
ins Feuer für sie."
„Also ein Eifersüchtiger käme nach Ihrer Über-
zeugung nicht in Frage — etwa ein zurückqewiesener
Bewerber?"
„Nein. Darüber würde sie mit mir gesprochen
haben. Vor einem Vierteljahr ungefähr beklagte
sie sich über die Huldigungen eines Herrn, den sie
in Ostende getroffen hatte. Sie hatte jeder An-
näherung kurz ein Ende gemacht und erwähnte be-
friedigt, daß damit alles aus sei. Bei ihrer Schön-
heit wunderten mich derartige Versuche nicht, aber
sie blieben in der Tat ganz wirkungslos."
Der Untersuchungsrichter lehnte sich in den Sessel
zurück, steckte die Feder hinters Ohr und sagte: „Wie
Sie vorhin bemerkten, gnädige Frau, bestand zwi-
schen Ihnen und Madame Palmini ein Verhältnis
wie zwischen Mutter und Tochter. Wissen Sie, wie
die Ermordete mit ihrem bürgerlichen Namen hieß?"
„Helene Palm."
„Richtig."
„Sie wissen auch, daß sie verheiratet war?"
„Ja — mit dem Bildhauer Joseph Palm."
„Richtig. In den von uns beschlagnahmten Pa-
pieren fand sich der Trauschein."
IgorlseSllttg sotnw

Lus der 5eedrücke in 8cheoeningen.
!5iet>c das 8lld aus 5eUe LZ2 und 5ZZ.>
vornehmste und eleganteste Seebad Hollands ist
Scheveningen. Seine Umwandlung aus einem ein-
fachen Schiffer- und Fischerdorf, das es noch vor wenigen
Jahrzehnten war, zu einem Tummelplatz der eleganten
Welt, seine Ausgestaltung zu einem Weltbade verdankt
es hauptsächlich der Nachbarschaft des Haag, der Residenz
der holländischen Fürsten, des Sitzes der holländischen
Regierung, von dem es geradezu einen Vorort bildet,
etwa wie in größerem Maßstabe Charlottenburg von
Berlin. Denn was ihm die Natur für seinen Beruf als
Seebad mitgegeben hat, ist nicht überwältigend, und die
meisten deutschen Nordseebäder brauchen in dieser Hin-
sicht einen Vergleich mit Scheveningen nicht zu scheuen.
Ja, der Badestrand ist sogar wegen der zahllosen kleinen
Muscheln, mit denen er besät ist, für zarte Füße nichts
weniger als angenehm. Liber die Strandboulevards, die
großen erstklassigen Hotels, Restaurants und Cafes und
das mächtige Kurhaus, die keine Saisonbauten, sondern
für den Jahresbetrieb eingerichtet sind, sind so großzügig,
haben einen so mondänen Charakter, wie es eben für
ein Weltbad erforderlich ist. Die Scheveninger Saison
schließt nicht mit Ende September, wenn die Fremden
abreisen, sondern an jedem schönen Tage im Jahr kann
es aus Besuch aus der Residenz rechnen. Es ist eben
der Vergnügungsort für den Haag, in dem es außer
Scheveningen kein Vergnügen gibt. Das Badepublikum
setzt sich zu gleichen Teilen aus den Vertretern der Aristo-
kratie und des wohlhabenden Bürgertums zusammen.
Die Zahl der wirklichen Badegäste, die sonstigen Besucher
nicht mitgerechnet, beläuft sich auf über 90000 im Jahr.
Der Mittelpunkt des Badelebens ist das Kurhaus, ein
stattlicher, vornehmer Bau mit hoher Kuppel über dem
großen Konzertsaal, der für annähernd 3000 Personen
Sitzplätze enthält. Nach der Seeseite zu hat es eine ge-
räumige Konzertterrasse, von der aus ein 416 Meter
langer Brückenweg, die sogenannte Seebrücke, über Boule-
vard und Strand hinweg weit hinaus ins Meer führt.
An seinem Ende erweitert er sich zu einer Plattform, auf
der sich ein großer Pavillon mit Restauration und Va-
rietebühne erhebt. Hier finden während der eigentlichen
Saison alltäglich von 2>/r bis 5 Uhr nachmittags und
am Abend von 8 bis 10 si- Uhr Konzerte statt. Die ele-
gante Welt promeniert dann auf der Seebrücke, auf deren
einer Seite, wie es auf unserem interessanten Bilde auf
Seite k>32 und S33 zu sehen ist, eine Glaswand mit Ruhe-
bänken davor Schutz gegen allzu heftigen Wind gewährt.
 
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