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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 49.1914

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614

Va5 Luch für- Mle

lM 28

vor der Villa als am Grabe der Ermordeten gewesen
zu sein.
Der Untersuchungsrichter verhehlte ihm nicht,
daß diese Zurückhaltung der vollen Wahrheit den
denkbar schlechtesten Eindruck mache, und nun be
kannte der in die Enge Getriebene rückhaltlos.
Ja, in Ostende hatte er Jlsa Palmini kennen ge
lernt und dort eine tiefe Leidenschaft für fie gefaßt.
Als er dieser Empfindung ihr gegenüber Worte ge
liehen hatte, war er schroff zurückgewiescn worden
und sehr niedergeschlagen heimgekommen.
„Und seitdem haben Sie die Dame nicht wieder-
gesehen?" fragte der Landgerichtsrat.
„Nur vom Zuschauerraum aus auf der Bühne."
„In der Villa waren Sie nicht?"
„Nie."
Plötzlich kam die Frage: „Sie tragen bei schlechtem
Wetter Gummischuhe?"
Erstaunt hatte Wösters aufgeschaut. „Aller-
dings — natürlich."
„Wieviel Paare besitzen Sie?"
„Zwei Paare."
Der Untersuchungsrichter machte sich Notizen,
und das Verhör war beendigt.
Am Nachmittage schon waren die Gummischuhe
beschlagnahmt, und der Landgerichtsrat verglich sie
mit einem Gipsabdrucke, den er besaß.
Ärgerlich schüttelte er den Kopf.
Alles ging quer. Wösters Fuß war erheblich
kleiner als die Spur im Lehm des Gartens.
Noch ein weiteres Hilfsmittel wurde versucht.
Man holte Luchs herbei, ließ ihn an der zer-
rissenen Bluse der Toten Witterung nehmen und
brachte ihn dann in das Bureau des Untersuchungs-
richters, als sich Wösters wieder bei diesem befand.
Das Tier beroch alles, sogar den Landgerichtsrat
selbst und auch den Verdächtigten, aber zum Schluß
sah es sich mit seinen klugen Augen ratlos um, als
wollte es sagen: Hier ist nichts für mich zu tun.
Große Erwartungen hatte auf diesen Versuch
natürlich niemand gesetzt. Monate waren verflossen,
was konnte überhaupt noch von Witterung an jenem
Kleidungsstücke sein. Aber man wollte nichts ver-
säumen.
Am dritten Tage endlich kam Balanowski. Spät
am Abend war's bereits, aber der Untersuchungs-
richter empfing ihn sofort.
Der dicke Herr war sehr aufgeregt. Er wollte
fortwährend selbst sprechen, statt sich verhören zu
lassen.
„Wie kann jemand bloß auf den ungeheuerlichen
Gedanken kommen, daß Benno Wösters einen Men-
schen ermorden würde! Eine Fliege fischt er behut-
sam aus dem Wein, haucht sie trocken und freut sich
wie ein Kind, wenn sie wieder lebendig wird. Einen
fremden Hund, der auf der Straße überfahren wurde,
hat er auf feine Kosten zur Tierarzneischule gebracht.
Ich war selbst dabei. Die Droschke hat er bezahlt,
den Arzt und die Pflege auf vier Wochen, trotzdem
ihn das Vieh nichts anging. Sieht so ein Mörder
aus?"
Reinicke winkte energisch ab. „Herr Direktor,
ich muß Sie bitten, mir nur zu erzählen, was ich
wissen will."
„Pardon! Also ich verstumme." Erwartungs-
voll, in militärisch korrekter Haltung sah er den Unter-
suchungsrichter an.
„Es handelt sich um den Abend des 21. Oktobers
vorigen Jahres. Wo befanden Sie sich damals?"
Balanowski lächelte. „Die Justiz hat Glück,"
sagte er. „Kaum ein anderer Zeuge führt so Buch
über seine Stunden, wie wir von der Assekuranz.
Gestatten Sie gütigst, daß ich nachsehe."
„Bitte."
Der Zeuge zog ein ganzes Paket Notizen und
Formulare aus der Tasche und begann in den Pa-
pieren zu blättern. Endlich murmelte er: „ Kalender-
woche vom 19. bis 26. Oktober. — Hier — am 21.
Verabredung mit Wösters zu Stiller, abends sieben
Uhr. Ganz richtig, das stimmt. Einen alten Re-
gimentskameraden wollte ich Wiedersehen — da
steht's in Klammern: ,v. Hü, das heißt v. Heydemoor.
Sehen wollte ich, ob's eine Anknüpfung gab. Wir
machen doch nun einmal unsere Geschäfte so, wir
gewesenen Offiziere — ist ja auch keine Schande."
Der Untersuchungsrichter winkte wieder ab. „Es
gilt nur festzustellen, daß Sie mit Wösters von etwa
sieben Uhr abends am 21. Oktober in Stillers Wein-
stube waren. Das ist also ganz sicher?"
„Ganz sicher, Herr Landgerichtsrat. Hier steht
noch die Resultatnotiz: ,H. nicht gekommen, für den
Abend versagt, will auch gar nicht', das heißt also:
mit dem Geschäft war's nichts, und jetzt entsinne
ich mich, daß mir Wösters erzählte, der Herr habe
Aussicht, sehr reich zu heiraten, und finde den Ge-
danken, sich versichern zu sollen, komisch."
„Bis wann waren Sie mit Herrn Wösters zu-
sammen?"

Der Befragte strich sich behaglich seinen langen
roten Schnurrbart. „Bei Stiller wird's immer
etwas ausgedehnt. Ich entsinne mich nicht, von
dort schon mal am selben Tage nach Hause gegangen
zu sein."
„Das heißt also vor Mitternacht?"
„Sehr richtig."
„Eine Ausnahme für diesen Abend ist nicht vor-
handen?"
„Wurde nicht gemacht, Herr Landgerichtsrat, das
kau» ich beeiden."
„Herr Wösters gibt an, mindestens bis elf Uhr -"
„Na, er war immer ein Schönfärber, wenigstens
als er noch das alte fidele Haus vorstellte, ehe er aus
Ostende wiederkam! Nee, nee, elf Uhr ist geschmei-
chelt, es war zwölf vorbei."
„Und Sie sind ganz sicher?"
„Bombensicher."
Der Protokollführer schrieb, was ihm Reinicke
diktierte, der redegewandte Versicherungsmann be-
teiligte sich ganz unerlaubt mit Bemerkungen, aber
sie blieben diesmal ungerügt.
Dem Landgerichtsrat gingen Gedanken im Kopfe
herum, die ihn stark beschäftigten. Er ließ den Frem-
den reden und forderte ihn schließlich nur auf, zu
unterschreiben.
Das geschah, und als Balanowski die Feder hin
legte, fragte er gemütlich: „Und nun lassen Sie ihn
doch 'raus, Herr Untersuchungsrichter. Es ist ja un-
heimlich, einen so anständigen Kerl schuldlos sitzen
zu lassen."
„Wir werden sehen. Die Dinge stehen nicht
schlecht für Ihren Freund, aber Mitteilungen mache
ich über meine amtlichen Entschlüsse im voraus
nicht."
„Verstehe! — Im übrigen empfehle ich mich ge-
horsamst, uni> wenn Sie einmal —"
„Schon gut!"
Ein halbe Stunde später unterzeichnete der Land-
gerichtsrat ein Formular, auf dem verfügt wurde,
daß der Kaufmann Benno Wösters aus der Unter-
suchungshaft zu entlassen sei.
18.
Der Baron Heydemoor befand sich seit einigen
Tagen in einer gewissen Verstimmung, über die sich
Luisa ärgerte. Er kam flüchtiger als sonst und war
bei diesen Besuchen gar nicht von jener Liebens-
würdigkeit, auf die die verwöhnte Braut Anspruch
zu haben vermeinte.
Endlich sagte sie's ihm in ihrer burschikosen Weise,
als er wieder offenbar müde und abgespannt Platz
genommen hatte.
„Sage, Eberhard, willst du vielleicht deinen
.Tassilo' heiraten?"
Er hob die Augen fragend empor. „Ich verstehe
dich nicht."
„Ich meine, du kümmerst dich um ihn weit mehr
als um mich. Und das vier Wochen vor unserer
Hochzeit!"
„Aber, Luisa, wie ungerecht du bist! Übermorgen
reite ich um den Staatspreis. Das ist keine Kleinig-
keit. Ganz abgesehen von der finanziellen Seite der
Sache — auch der Ruf des Pferdes für die Zukunft
steht auf dem Spiele. Da gehört ihm eigentlich jede
Stunde, und ich bekümmere mich noch zu wenig um
.Tassilo'. Von welchen Zufälligkeiten hängt oft die
Entscheidung ab! Eigentlich sollte ich sozusagen bei
ihn: Wohnung nehmen."
Sie schob die Blumen, die er gebracht hatte,
ärgerlich beiseite.
„Lieb, sei doch verständig!"
„Bur ich's vielleicht nicht? Diese Unhöflichkeit
fehlte bloß noch! Und das alles um eines Pferdes
willen!"
„Ich bitte um Vergebung, so meinte ich's natür-
lich nicht. Also sei nachsichtig, bitte, nachsichtig mit
der Notlage, in der ich mich befinde. Mein Herz zieht
mich zu dir, aber meine Pflicht zu der verantwort-
lichen Aufgabe, die ich nun einmal übernommen
habe. Noch zwei Tage, und alles ist wieder anders —
dann gehöre ich nur dir!"
Er hatte ihre Hand genommen und küßte sie.
„Ach, es ist ja nicht das allein, was mich bedrückt.
Mamas Gejammer um Benno, den sie auf einmal
ganz in ihr Herz geschlossen hat — und dann Benno
selbst! Sie lassen ihn noch immer nicht los! Das
alles regt mich auf, ärgert mich, und in diesem Elend
vernachlässigst du mich auch noch!"
„Ich bitte dich, Luisa, das tu' ich doch nicht! Ich
bin schrecklich in Anspruch genommen, glaube mir,
und dann die Geschichte mit Benno drückt mich
auch."
„Läßt sich denn da gar nichts tun?"
„Nichts als abwarten."
„Eine Kaution stellen?"
„Bei Mordverdacht? Unmöglich!"
„Die Sache beschleunigen?"

„Undenkbar. Welche Unmöglichkeiten du da aus-
tüftelst aus Interesse für ihn!"
„Eberhard!"
Das war scharf und zurechtweisend gesprochen.
„Ich meine —"
„Darüber, denke ich, find wir ein für allemal
einig!"
„Wir sind's! — Aber was soll ich sagen, wenn
du mit solchen Sachen kommst?"
„Nun erkläre nur noch, ich langweile dich!"
„Aber Luisa, wir wollen uns doch nicht mißver-
stehen und dadurch erbittern. Laß die zwei Tage
noch vergehen, dann ist alles wieder in Ordnung."
Sie gähnte leise. „Ein schöner Trost, diese Ver-
tagung ! Da will ich dir denn doch lieber offen sagen,
daß ich dich ganz verändert finde seit der dummen
Geschichte mit Benno. Und.sieh mal, das verstehe
ich gar nicht. Schreckhaft bist du, nervös, blaß und
unruhig!"
„Ich?"
„Ja, du! Was geht es im Grunde dich an? So
dick war doch eure Freundschaft nicht!"
„Du machst merkwürdige Beobachtungen! Ich
habe keine Ahnung, daß ich zu ihnen Veranlassung
gegeben haben sollte."
„Wenn man nur einen einzigen Gegenstand zu
wirklich interessierter Beobachtung hat, sieht man
scharf."
„Und doch irrst du dich."
„Mama findet aber auch —"
Er erhob sich etwas verstimmt: „Danu lasse ich
mich wohl noch zu oft sehen und beobachten, bin
jedenfalls nur ein beunruhigendes Objekt eurer
Wahrnehmungen. Ich beeile mich, euch die häus-
liche Ruhe wiederzugeben."
Er küßte ihr die Hand und wollte gehen.
Sie hielt ihn nicht.
Als er noch im Zimmer war, erscholl draußen die
elektrische Flurklingel. Beide lauschten. Im Kor-
ridor gab es eine gewisse Aufregung. Und jetzt traten
Kolmar, dessen Frau und Benno Wösters über die
Schwelle.
„Er ist frei, Luisa!" rief die Mutter. „Endlich
ist das Gericht zur Vernunft gekommen!"
„Der bloße Gedanke war ja Wahnsinn!" rief
Kolmar.
Luisa erhob sich und schritt dem Vetter entgegen.
Beide Hände streckte sie ihm hin. „Ich gratuliere,
Benno, von ganzem Herzen gratuliere ich! Dir und
uns! Denn auch uns lag dein Mißgeschick schwer
auf der Seele. Alles war chier aus dem Gleich-
gewicht, Mama am meisten —"
„Stimmt!" pflichtete Frau Kolmar bei. „Ich
am meisten, weil ich eben am meisten an dir hänge,
Benno. Hab' dir neulich zum Empfang gehörig den
Kopf gewaschen, weil ich unzufrieden war; aber dich
gleich dafür eingesperrt zu sehen, das wollte ich nicht.
Nun mach nur dem Staat eine schöne Rechnung für
unschuldig erlittene Untersuchungshaft."
Alle lachten.
„Ach, Tantchen," kam endlich Benno zu Wort,
„ich bin froh, daß man mich herausgelassen hat."
„Na, aber so etwas gibt's doch jetzt! In Cannes
an der Table d'hote war ein Justizrat aus Berlin,
der hat gewaltig geprahlt mit dieser Reform, und
ich war ganz stolz, aus so 'ner Gegend zn sein."
„Auch ich gestatte mir —"
Frau Kolmar drehte sich um. „Ah, unser Herr
Schwiegersohn ist auch da! Natürlich wieder nut
Blumen, die es eigentlich gar nicht gibt!"
Der Baron machte eine respektvolle Verbeugung
und schritt dann auf Wösters zu. „Auch ich gestatte
nur, Genugtuung und Freude darüber auszusprechcn,
daß sich dieser unbegreifliche Irrtum so rasch auf-
klärte."
„So sehr rasch ist mir's eigentlich nicht vor-
gekommen," entgegnete Benno. „Über drei Tage
haben sie mich im Loch behalten, und mein Chef
wünscht, daß ich mich zunächst auf längere Zeit aus-
lüfte, ehe er sich entscheiden wird, ob ich überhaupt
bei ihm noch möglich bin."
„Wie die Dinge sich nun gestaltet haben, lieber
Benno," erklärte der Onkel, „bin ich natürlich auch
noch da. Wir sprechen später über deine Pläne von
neulich."
Luisa trat dazwischen. „Aber laßt ihn doch end-
lich erzählen! Es muß ja riesig interessant sein, was
er erlebt hat. Bei Tage in der vergitterten Zelle,
bei Nacht Träume von Henker und Schafott —"
Wösters schüttelte den Kopf. „Zu erzählen habe
ich fast nichts. Ich weiß nicht einmal, wie nnd wo
mich der rabiate Jüngling gesehen haben will, der
mich wiederzucrkennen behauptete. Man wird so
wenig informiert, wenn sie einem im Verhör die
Mausefallen stellen."
„Mein Gott, jetzt reden sie das Blaue vom Him-
mel herunter, und keiner denkt daran," rief Fran
Kolmar, „daß der arme Junge Hunger hat! Ein an-
 
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