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Heft 2

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Auswanderer vor der Abfahrtshalle der Hainburg-Amcrika-Linie.

Straße in den Auswandererhallen der Hamburg-Amerika-Lknke.

Heimat zurückkehren, wenn ihn nicht der Mangel an Uberfahrtsmög-
lichkeit, unsere verworrenen Zustände oder seine eigenen Familienverhält-
nisse daran hinderten.
Nach dezn Einwanderungsgesetz von 1917 dürfen keine Personen landen,
von denen befürchtet wird, daß sie der allgemeinen Unterstützung zur Last
fallen könnten, wie zum Beispiel alleinreisende schwangere Frauen oder
Frauen nut Lindern unter zehn Jahren, deren Vater nicht in den Staaten
lebt. Ein neues Einwauderungsverbot betrifft alle Deutschen, die keine
Angehörigen in diesem Land besitzen.
In Kanada wie auch in sämtlichen anderen englischen Kolonien und
Dominien ist Deutschen die Einwanderung auf Jahre hinausverboten,und
das revolutionsdurchwühlte Mexiko aufzusucheu, ist fürs erste nicht ratsam.
Uber die Stellung des deutschen Mädchens in dem größtenteils roma-
nischen Südamerika, wo die sittlichen Anschauungen wesentlich andere
sind als in Deutschland, schreibt Frau Niessen-Deiters: „Vou Mexiko bis
Chile und Argentinien wiederholt sich das gleiche: die Frau tritt nicht an
die Öffentlichkeit, die ,Dame° arbeitet nicht,- Frauenarbeit ist höchstens
ein Notbehelf fürs Proletariat. Wer aber jemals beobachtet hat, wie hart-
näckig eine solche Anschauung, von oben ausgehend, auch solche Kreise
tyrannisiert, von denen die Lebensnotwendigkeit eigentlich ganz anderes
verlangt, der begreift, daß damit die soziale Stellung auch für die arbeitende
Ausländerin eine vollkommen andere wird als in Nordamerika."
In Brasilien, wo das Deutschtum hauptsächlich iu den Südstaaten in
geschlossenen Bauernkolonien zu finden ist, schließt sich die Tätigkeit der
Frau an die des Kolonisten an. Dieses Land will es nun aber mit allen
Mitteln erzwingen, daß die Deutschen in der eigenen Bevölkerungsmasse
aufgesogen werden. Man verhindert deshalb einerseits ohne Ausnahme
jede neuere geschlossene Deutschsiedluug, verspricht aber anderseits unse-
ren Landsleuten beachtliche Vorteile, wenn sie Brasilianerinnen heiraten.
In Argentinien werden alleinrei-
sende Frauen nicht eingelassen, wenn
sie nicht genügende Existenzmittel auf-
weisen können. Der Deutsche Volks-
bund und der Deutsche Frauenverein,
der in Buenos Aires ein Heim unter-
hält, bemühen sich eifrig um die an-
kommenden Landsleute. Leider ist der
deutsche Ruf durch agitatorisch-bol-
schewistisch auftreteude Arbeiter ge-
schmälert worden, was umso mehr
zu bedauern ist, als man für die an-
kommenden Deutschen Kreditorgani-
sationen schaffen wollte.
In Paraguay, das an sich für-
einige Siedlungen in Betracht kommt,
ist durch einen früheren Krieg ein be-
deutender Frauenüberschuß entstanden,
der sich im Erwerbsleben sehr bemerk-
bar macht.
In Afrika kymmt nur die alte Ko-
lonie Deutsch-Südwest in Frage, wo
der Deutsche unter günstigeren Be-
dingungen als in unseren anderen
früheren Kolonien lebt. Zur Bewah-
rung des deutschen Charakters wird
hoffentlich bald wieder eine Auswan-
derung deutscher Frauen möglich sein.
Wie sich die Verhältnisse in der
zerstückelten Türkei und ihren früheren

Landesteilen entwickeln werden, ist schwer vorauszusagen, vorderhand
dürften sich keine Möglichkeiten zur Einwanderung bieten, wenn auch dort
das letzte Wort in dieser Beziehung noch nicht gesprochen ist.
Außer England, Frankreich und Belgien scheiden in Europa Spanien,
Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien völlig für unsere Betrachtungen
aus. In Deutschösterreich sind die Verhältnisse derart trostlos, daß wohl
kaum ein Einwanderer sein Brot dort finden wird, wenn er nicht kapital-
kräftig ist und verhindern hilft, daß deutscher Gruud und Boden in die
Hände von Amerikanern, Italienern oder Franzosen gerät.
Skandinavien wird nur in vereinzelten Fällen Verdienstmvglichkeiten
gewähren können.
Aus Elsaß-Lothringen bringt man deutsche Bauernmädchen in großer
Zahl als Köchinnen nach Paris.
Die Gefahr, daß gutgläubige Mädchen durch harmlos klingende An-
zeigen oder Anwerbungen dazu verführt werden, im Ausland ohne
vorherige Prüfung Stellung anzunehmen und dort der Prosti-
tution in die Hände fallen, ist groß. Ein vielbegangener Weg ist folgender:
Ein elegant auftretender Herr gibt einem Mädchen das Heiratsversprechen
oder läßt sich sogar von einem falschen Geistlichen mit ihr trauen, um fie
daun im Ausland für tausend Mark zu verkaufen. Vor 1914 gab es weit-
verzweigte Organisationen dieses unsauberen Gewerbes, die unter sich
Ringe geschlossen hatten. Der Mädchenhandelprozeß 1913 in Beuthen
deckte himmelschreiende Zustände auf. Zeugen mußten abreisen, weil sie
nach Aussage des Staatsanwalts sich berechtigterweise nicht mehr vor dem
Stahl des Mädchenhündlers sicher fühlen konnten. Beamte waren be-
stochen, belastende Akten verschwanden. Wieviel größer sind nun derartige
Mißstände im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Nach dem damaligen
Bericht der „Frankfurter Zeitung" waren 1909 alle in Betracht kommenden
Stellen vom Polizisten bis zum Polizeipräsidenten und Staatssenator
bestochen, wofür jährlich achtundzwan-
zig Millionen aufgewandt wurden.
Unter dem Namen von Wohltätig-
keitsvereinen verbargen 'sich
die größten M ä d ch e n h ä n d l e r-
ringe! Große „Märkte" waren Rio,
Montevideo und Buenos Aires, wo
vor 1914 unter den Verführten jede
sechste eine Deutsche gewesen sein soll.
Im Jahre 1913 wurden achttausend
jüdische Mädchenhändler aus Argen-
tinien ausgewiesen, die nach Kongreß-
polen eilten, um dort neue Beute
zu ergattern. Große Schiffahrtslinien
nahmen skrupellos außer den vor dein
Heeresdienst flüchtenden Leuten aus
Österreich-Ungarn auch die Mädchen
als Zwischendeckspassagiere nicht nur
auf, sondern ließen auch noch durch
ihre Agenten diese anwerben,- steigen
doch die Gewinne mit der Zahl der
Zwischendeckspassagiere.
Durch den Friedenschluß sind wir
unserer Handelsflotte beraubt, aber
englische, amerikanische und japanische
Schiffe werden die Linien fahren,
und in nicht allzu ferner Zeit wird man
wieder Umschau nach neuen Opfern
halten. Auch im besetzten Gebiet hat
diese Tätigkeit eingesetzt,- bei der


Zwischendeckspassagiere begeben sich über die Laufplanke an Bord.
 
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