Nr. 5.
BLÄTTER FÜR GEMÄLDEKUNDE.
93
gelingt es, sich vom Zwange der Über-
schriften gänzlich loszusagen, und so
kommt es denn zur ausgesprochenen
Empfindungsriecherei, wenn Beschauer
sich einbilden, wirkliche Beziehungen
zwischen einem Gemälde und einem
bestimmten Musikwerk herauszufinden,
nachdem sie davon gelesen oder gehört
haben, durch welche musikalische Kom-
position der Maler zu seiner Schöpfung
angeregt worden ist.
So wird man denn auch recht vor-
sichtig sein müssen, wenn man andere
Empfindungen (besser Gefühle) aus den
Bildern herauslesen will, die nichts mit
Musik zu schaffen haben. Auch die
Titel von Gemälden versprechen oft
viel mehr, als die gesamte Malerei
halten kann.
Aber nun wieder zur künstlerischen
Empfindung. Wenn wir nicht daran
glauben wollen, daß die Lust am Schaffen
in ganz übernatürlicher Weise erst vom
Künstler in das Werk und dann vom
Werke auf den Beschauer überströme,
müssen wir wohl annehmen, daß sie
in ganz materiellen Zügen zum
Ausdruck kommt, daß also die
Empfindung in Form und Farbe
zu erkennen ist. Für Angelegenheiten
dieser Art gibt es heute auch noch kein
Bestimmungsbuch, und die Mißerfolge
der „Graphologie“ lassen einstweilen
ein derartiges Zusammenfassen auch
noch gar nicht erwünscht erscheinen.
Wie aber der Graphologie (der Lehre
von den Rückschlüssen aus der Hand-
schrift auf den Charakter des Schreibers)
gewisse Seiten zukommen, die sich kühl
und vernünftig erörtern lassen, so gibt
es auch auf diese Frage nach dem ma-
teriellen Ausdrucke der künstlerischen
Empfindung eine vernünftige Antwort.
Man schlage denselben Weg ein wie bei
der Erkenntnis anderer äußerer Merk-
male und man wird zu einem befriedigen-
den Ergebnis gelangen. Und dieser Weg
ist stets die induktive Methode, d. h.
die Beobachtung der sicheren Fälle mit
nachfolgenden Rückschlüssen auf weniger
sichere. Wir müssen uns also um Fälle
umsehen, bei denen es unzweifelhaft
ist, daß die Künstler entweder mit Lust
und Freude an der Arbeit waren, oder
daß sie ungern und gezwungen gear-
beitet haben, Werke, von denen wir
bestimmt wissen, daß sie mit oder ohne
Empfindung geschaffen worden sind.
Die alte Kunst stellt in dieser Beziehung
höhere Anforderungen an die Kunst-
wissenschaft als die moderne, doch
lassen sich der Beispiele genug finden,
bei denen man mit hoher Wahrschein-
lichkeit annehmen kann, daß der eine
Künstler talentsprühend und voll war-
mer Begeisterung ans Werk gegangen
ist, daß der andere schwach begabt,
stimmungslos und gezwungen gearbeitet
hat. Jahreszahlen und Angaben über
das Künstlerleben belehren uns darüber,
ob diese oder jene Gemälde der schaffens-
frohen Jugend oder dem müden Alter
ihre Entstehung verdanken; wir erfahren
durch sie, welche Werke während der
Zeit vollster Kraft und reifsten Könnens
entstanden sind. Solche Vergleichungen
sind lehrreich und zeigen gelegentlich,
wie es um den materiellen Ausdruck
der künstlerischen Empfindung steht,
im großen, im kleinen, bis herunter
zum einzelnen Pinselstrich und zum
hingesetzten Pünktchen und Grübchen.
Bei modernen Kunstwerken geht man
bequemer und sicherer, da man doch
keine kunstgeschichtlichen Kenntnisse
braucht, um vom lebenden Künstler
zu erfragen, wann und wo er mit be-
sonderer Lust oder Unlust bei der Ar-
beit war. So lernt man unterscheiden,
ob ein Griffelzug, eine Form, ein Far-
benton „empfunden“, oder „empfin-
dungslos“ hingesetzt ist. Wenn auch
unklare Fälle übrig bleiben, so ändert
das nichts an der Tatsache, daß die
induktive Methode doch in vielen Fällen
Klarheit schafft. Gute Erfolge des Ver-
BLÄTTER FÜR GEMÄLDEKUNDE.
93
gelingt es, sich vom Zwange der Über-
schriften gänzlich loszusagen, und so
kommt es denn zur ausgesprochenen
Empfindungsriecherei, wenn Beschauer
sich einbilden, wirkliche Beziehungen
zwischen einem Gemälde und einem
bestimmten Musikwerk herauszufinden,
nachdem sie davon gelesen oder gehört
haben, durch welche musikalische Kom-
position der Maler zu seiner Schöpfung
angeregt worden ist.
So wird man denn auch recht vor-
sichtig sein müssen, wenn man andere
Empfindungen (besser Gefühle) aus den
Bildern herauslesen will, die nichts mit
Musik zu schaffen haben. Auch die
Titel von Gemälden versprechen oft
viel mehr, als die gesamte Malerei
halten kann.
Aber nun wieder zur künstlerischen
Empfindung. Wenn wir nicht daran
glauben wollen, daß die Lust am Schaffen
in ganz übernatürlicher Weise erst vom
Künstler in das Werk und dann vom
Werke auf den Beschauer überströme,
müssen wir wohl annehmen, daß sie
in ganz materiellen Zügen zum
Ausdruck kommt, daß also die
Empfindung in Form und Farbe
zu erkennen ist. Für Angelegenheiten
dieser Art gibt es heute auch noch kein
Bestimmungsbuch, und die Mißerfolge
der „Graphologie“ lassen einstweilen
ein derartiges Zusammenfassen auch
noch gar nicht erwünscht erscheinen.
Wie aber der Graphologie (der Lehre
von den Rückschlüssen aus der Hand-
schrift auf den Charakter des Schreibers)
gewisse Seiten zukommen, die sich kühl
und vernünftig erörtern lassen, so gibt
es auch auf diese Frage nach dem ma-
teriellen Ausdrucke der künstlerischen
Empfindung eine vernünftige Antwort.
Man schlage denselben Weg ein wie bei
der Erkenntnis anderer äußerer Merk-
male und man wird zu einem befriedigen-
den Ergebnis gelangen. Und dieser Weg
ist stets die induktive Methode, d. h.
die Beobachtung der sicheren Fälle mit
nachfolgenden Rückschlüssen auf weniger
sichere. Wir müssen uns also um Fälle
umsehen, bei denen es unzweifelhaft
ist, daß die Künstler entweder mit Lust
und Freude an der Arbeit waren, oder
daß sie ungern und gezwungen gear-
beitet haben, Werke, von denen wir
bestimmt wissen, daß sie mit oder ohne
Empfindung geschaffen worden sind.
Die alte Kunst stellt in dieser Beziehung
höhere Anforderungen an die Kunst-
wissenschaft als die moderne, doch
lassen sich der Beispiele genug finden,
bei denen man mit hoher Wahrschein-
lichkeit annehmen kann, daß der eine
Künstler talentsprühend und voll war-
mer Begeisterung ans Werk gegangen
ist, daß der andere schwach begabt,
stimmungslos und gezwungen gearbeitet
hat. Jahreszahlen und Angaben über
das Künstlerleben belehren uns darüber,
ob diese oder jene Gemälde der schaffens-
frohen Jugend oder dem müden Alter
ihre Entstehung verdanken; wir erfahren
durch sie, welche Werke während der
Zeit vollster Kraft und reifsten Könnens
entstanden sind. Solche Vergleichungen
sind lehrreich und zeigen gelegentlich,
wie es um den materiellen Ausdruck
der künstlerischen Empfindung steht,
im großen, im kleinen, bis herunter
zum einzelnen Pinselstrich und zum
hingesetzten Pünktchen und Grübchen.
Bei modernen Kunstwerken geht man
bequemer und sicherer, da man doch
keine kunstgeschichtlichen Kenntnisse
braucht, um vom lebenden Künstler
zu erfragen, wann und wo er mit be-
sonderer Lust oder Unlust bei der Ar-
beit war. So lernt man unterscheiden,
ob ein Griffelzug, eine Form, ein Far-
benton „empfunden“, oder „empfin-
dungslos“ hingesetzt ist. Wenn auch
unklare Fälle übrig bleiben, so ändert
das nichts an der Tatsache, daß die
induktive Methode doch in vielen Fällen
Klarheit schafft. Gute Erfolge des Ver-