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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Funke, Rainer: Cyberspace versus Homukulus? Beginnt das Problem im Virtuellen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0057

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Die Bilder und die Begriffe vom Leib ver-
ändern sich mit den Veränderungen der
Medien des Diskurses über den Leib und
die Welt, insbesondere mit den Veränderun-
gen der vergegenständlichten Gedächtnis-
apparate zur Fixierung dieser Diskurse. Da-
von gehen wir spätestens seit Ludwig
Wittgenstein aus.

„So, wie der voralphabetische Körper sich
durch das Medium Schrift erweitert und zum
alphabetischen Körperselbstbild gestaltet, so
erweitert und gestaltet sich der alphabetische
Körper durch die Erfindung von technischen
Medien zum technomedialen Körper." (Ute
Ziegler: Medien stammen vom Menschen ab.
In: Erzeugte Realitäten II. S.a.a.O., S. 47)
Wahrnehmungsapparate schieben sich zwi-
schen uns und die alte Welt, die die „direk-
te" Erfahrung ablösen, ein ganzheitliches
Körperbild wird in Frage gestellt.

Die seit vielen Jahrtausenden anhaltende
Transformation von Innen und Außen, die der
Mensch, getrieben von projektiven Ängsten
sowie begleitet von Lust der Selbstgewißheit
und Schmerz des Verlustes an symbiotisch-
mütterlicher Keuschheit stetig treibt, zeigt
sich nun als (fast) vollendbar: ihre Unterschei-
dung wird aufgehoben.

Die Transformationsläufe kommen aufeinan-
der zu und entpuppen sich so als Funktion
einer allgemeinen projektiven Kraft.

So gesehen ist es tatsächIich das Schema des
Homukulus, das dem der virtuellen Welten
zugrundeliegt, die Probleme von Virtualität
und Entitätenwirrnis haben hier ihren An-
fang.

Die bange Frage nach der Dauer von Leib und
Seele kulminiert nun in der Pluralisierung der
Typen von Körpern und Seelen, indem deren
biologische Grenzen aufgebrochen und tech-
nisch verfügbar gemacht werden.

Dabei entsteht eine neue Nähe der Menschen
in ihren Erlebnissen zueinander, da die Kom-
munikation der subjektiven Erlebnisse „di-
rekt"-bildhaft, sozusagen unter Hineinnahme
von anderen in das eigene Erleben geschieht.
Ostentatives Handeln kann derart vermittelt
in neuem Maße Koordination tragen. Besser
noch als der Hufschiedt, der seinem Lehrling
vor allem zeigte (und weniger sagte), wie das
Eisen am Pferdehuf zu befestigen ist, werden
wir uns und unsere Vorhaben gegenseitig

zeigen, ohne auf den Umweg der Sprache
gehen zu müssen.

Neben den zufällig-biologischen tritt der
technisch-gewollte Mensch.

Wollendes Gestalten als zielgerichtete Model-
lierung von Wahrnehmung erweitert so sei-
nen Gegenstand in das Subjekt selbst hinein.
Damit erschließen sich neue Dimensionen
dessen, was unter Design verstanden wird.
Die Verbindung zwischen dem Design des
Außen-Körpers und dem Design der Innen-
Seele ergibt sich aus der genetisch fixierten
und konventionell codierten Erfahrung
über Gestaltbeziehungen syntaktischer und
semantischer Art. Insofern ist virtuelles
Design nur als Fortschreibung bestehender
Gestaltungsgrundsätze vorstellbar, freilich
unter Einbeziehung der Form-relevanten Be-
dingungen der neuen Gestaltungsmedien.
Gestaltqualitäten entwickeln sich so aus der
Welt des traditionellen Design heraus, und
nur die althergekommene biologische Bezie-
hung von Wahrnemung und Gegenstand
kann dabei die Ausgangsposition sein.

Das Ergebnis mannigfaltiger Transformations-
prozesse von hier aus in neue Erlebniswelten
kann dabei natürlich nicht im ganzen voraus-
gesehen werden.

„Was es heißt, ein Mensch zu sein, wird nicht
mehr im genetischen Gedächtnis verankert
sein, sondern indem es im elektromagneti-
schen Feld des Stromkreises wiedergestaltet
wird."

(Stelarc: Auf dem Weg zum Postmensch-
lichen. In: Erzeugte Realitäten II, Stelarc,
Orlan, Luis Bec. Der Körper und der Compu-
ter. Katalog. Neue Gesellschaft für bildende
Kunst Berlin 1994, S. 11).

Damit ist die Haut nur noch bedingt die Gren-
ze zwischen Innen und Außen. Berührungen
bekommen neue Dimensionen (Sexualität
über viele Kilometer hinweg per Cyber-Sex-
Geräte sind ein nachhaltiger Beleg dafür),
und mit Sicherheit ergeben sich neue Verstrik-
kungen in den Bedeutungswelten.

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