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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Editor]
Designtheoretisches Kolloquium — 16.1995

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Noack, Klaus-Peter: Die Wirklichkeit des Virtuellen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31840#0157

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Die Dinge sind nicht identisch mit dem, was
sie gerade tun oder getan haben, was sich
an ihnen manifestiert oder gezeigt hat. Sie
sind auch, was sie tun können. Menschen sind,
wie Henri Lefebvre in seiner „Kritik des
Alltagslebens" Bd. 2, S. 125 schreibt, „Nebel-
haufen aus virtuellen Kräften". So ist es bei
der Beurteilung von Menschen wichtig, den
Raum ihrer Möglichkeiten, Fähigkeiten und
möglichen (erst zu entwickelnden) Fähigkei-
ten abzuschätzen. All das gehört zur Beant-
wortung der Frage „was ist das für ein
Mensch?"

Denkt und spricht man so, dann ist die Wirk-
lichkeit des Virtuellen nichts paradoxes, son-
dern eine Selbstverständlichkeit./2/

Der entscheidende Schritt auf dem Weg ins
semantische Chaos wurde in der physikali-
schen Optikvollzogen. Betrachten wirfolgen-
de Abbildung aus meinem alten „Brockhaus'
ABC der Naturwissenschaft und Technik",
Leipzig 1952, S. 63:

Im „Lexikon der Physik" von Richard Knerr,
München 1986 findet sich in Bd. 2, S. 580 fol-
gende Eintragung:

„Virtuelles Bild

Unter einem virtuellen Bild versteht man ein
nurscheinbarvorhandenes Bild, dassich nicht
z. B. mit einem Schirm einfangen läßt... Eine
Zerstreuungslinse ,entwirft' ein Bild, das nicht
hinter, sondern vorder Linse scharf wäre. Dort
ist es natürlich nicht aufzufangen. Man nennt
es daher virtuell. Der Ausdruck wird übrigens
noch in anderen Bereichen der Physik verwen-
det, wenn man Vorgänge beschreiben will,
die nur in der Vorstellung ausgeführt wer-
den."

In der physikalischen Optik wird also ein phy-
sikalisch nicht reales Bild als „virtuell" be-
zeichnet. Im ursprünglichen Sinne des Wor-
tes „virtuell" ist dieses Bild aber nicht virtu-
ell, da physikalisch nicht möglich. Das schein-
bare Bild befindet sich nur rein phänomenal
vor der Linse, d. h. unser Wahrnehmungs-
apparat „deutet" die von den Strahlen ver-
ursachten Reize in unserem Auge so, daß wir
dort vor der Linse an der angegebenen Stel-
le einen Gegenstand von angegebener Grös-
se und Form sehen. Dieses Bild existiert als

Wahrnehmungserlebnis nur in unserem Kopf,
nicht aber in der physikalischen Realität.
Indem nun etwas rein scheinhaftes als „vir-
tuell" bezeichnet wird, erhält das Wort in der
physikalischen Optik eine völlig neue Bedeu-
tung; „virtuell" wird als Gegensatz zu ,real'
interpretiert, während es ursprünglich nur als
gegensätzlich zu ,aktuell' verstanden wurde.

In dieser neuen Verwendungsweise von „vir-
tuell" ist genau das verlorengegangen, was
die nahezu einmalige philosophische Bedeu-
tung der ursprünglichen Wortbedeutung
ausmacht: die Betonung der Realität von
Potentialität trotz nicht gegebener Aktuali-
tät. Die Potentialitäten können als Tenden-
zen und Dispositionen oder, im Sinne passi-
ver Potentialitäten, als Nichtfestgelegtheit,
Offenheit, Formbarkeit, Wählbarkeit real
sein.

Daß an dieser Umdeutung von „virtuell"
kaum Anstoß genommen wurde, kann ich mir
nur damit erklären, daß der Differenz zwi-
schen dem Aktuellen und dem Realen bzw.
dem Gegenwärtigen und dem Wirklichen
keine große Bedeutung beigemessen wird
oder, was wohl noch häufiger vorkommen
wird, daß das Reale mit dem Aktuellen bzw.
das Wirkliche mit dem Gegenwärtigen iden-
tifiziert wird.

An die angesprochene, in der physikalischen
Optik neugeprägte Verwendung von „virtu-
ell" knüpft der Sprachgebrauch im Zusam-
menhang mit Cyberspace an, hat aber inzwi-
schen wiederum zu weiteren Bedeutungs-
veränderungen geführt.

Die wichtigste mir bekannte Bemühung um
die Erklärung von „Virtualität" innerhalb der
Welt von Cyberspace stammt von Theodor
Nelson und wurde bereits im November 1980
verfaßt:

„Der entscheidende Gesichtspunkt für das
Design von interaktiven Systemen ist, was ich
die Virtualität eines Systems nennen möch-
te. Ich verwende diesen Begriff in einer sehr
allgemeinen Bedeutung und bezeichne da-
mit alle Bereiche, in denen Vorstellung, Ef-
fekte und lllusion eine Rolle spielen.

Mit der Virtualität eines Gegenstandes mei-
ne ich seinen Schein, im Unterschied zu sei-

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