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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1915)
DOI Artikel:
Stapel, Wilhelm: Die Polenfrage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0087

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Die Polenfrage

^^ür d<rs Wesen des Nationalismus ist die Geschichte des polnischen
^-^Volkes besonders auffchlußreich. Haben wir auf der einen Seite
in der deuffchen und der italienischen Geschichte Beispiele dafür,
Vie das Bewußffein der Volks-, Sprach- und Kultureinheit bestimmend
für die politischen Geschicke wird und mehr oder weniger zur bewußten
Gründung von Bationalstaaten führt, auf der andern Seite in der Geschichte
der Iuden ein Beispiel dafür, wie sich das Schicksal eines Volkes ohne
die Möglichkeit eines eigenen Staates gestaltet, so zeigt uns die polnische
Geschichte das Mittlere zwischen beiden, nämlich das Bild einer Volks«
und Landeseinheit, bei der die äußern Möglichkeiten zur Staatsbildung
gegeben sind, bei der die politische Einheit aber wegen besonderer Um»
stände nicht von innen heraus, aus dem Volke selbst, sondern nur von außen
her, durch die Gunst oder die Interessen der Nachbarvölker verwirklicht
werden kann.

Wir Deuffchen haben bis jetzt die polnische Geschichte viel zu wenig von
der polnischen Seite gesehn. Für uns im Deutschen Reiche war die „pol-
nische Frage" theoretisch wie praktisch im Grunde eine preußische, besten-
falls eine preußisch-deuffche. Wir sahen bis an die Ostgrenze des Reiches,
bemerkten dort „zentrifugale" Volkskräfte, die für unsre politische und
militärische Sicherheit bedenklich waren, und erörterten nun, wie dieser
Gefahr innerhalb unsrer Grenzen zu begegnen sei. So arbeiteten wir
an einem Teilproblem und wurden mit der Lösung nicht einmal im
Denken, geschweige denn in der Wirklichkeit fertig. Wir konnten gar
nicht damit fertig werden, weil wir das Wesentliche, die nationale Einheit,
der jene Volkskräfte zustrebten, geflissentlich außer Betracht ließen. Wo
man vor dem Wesentlichen einer Sache die Augen schließt, ist keine sach-
liche Lösung möglich. And warum gingen wir der ernsthaften Erörterung
der nationalpolnischen Idee eines gesamtpolnischen Reiches, von welcher
doch alle Gegenkräfte gegen unsre Arbeit ausströmten, aus dem Wege?
Aus Achtung vor der Staatsgrenze. Wir behandelten die polnische
Frage nie aus dem Vollen, weil wir uns vor einer „Einmischung in
die Angelegenheiten anderer Staaten^, nämlich Rußlands und Öster-
reichs, scheuten. i

Nun ist aber die polnische Frage ihrem Wesen nach eine zwischenstaat-
liche. Sie konnte nur auf zweierlei Weise gelöst werden: entweder, indem
die drei beteiligten Staaten sich zu einer einheitlichen friedlichen Lösung
enffchlossen, oder, indem einer oder zwei dieser Staaten ihre Lösung gegen
die Interessen der oder des andern mit Gewalt durchsetzten. Wie sollte
Preußen seine polnischen Angelegenheiten befriedigend ordnen, solange
Rußland im Zartum Polen mit Panslawismus und wirffchaftlichen Lockun-
gen arbeitete, und wie sollte Rußland mit „seinen^ Polen friedlich oder
durch Gewalt fertig werden, solange die galizischen Polen eine gewisse
Politische Selbständigkeit pflegen konnten? Aber wie auch immer, Voraus-
setzung für jede Lösung war und ist die Kenntnis G e s a m t polens. Die
aber hat man bei uns in weiteren politischen Kreisen nie erstrebt. Unter
den deuffchen Schriftstellern war es außer Wilhelm von Massow (sy02)
nur George Cleinow, der die polnische Frage von ihrem Mittelpunkt aus
zu begreifen lehrte. Von Cleinows auf drei Bände angelegtem Werk „Die
Zukunft Polens" (Verlag von Grunow, Leipzig) erschien der erste V03,

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