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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

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Heft 4 (2. Novemberheft 1915)
DOI Artikel:
Natorp, Paul: Volkstum - Deutschtum
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https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0170

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nisationsweise der in Rede stehenden Nntionen versuchen. Doch darf, zu-
folge des ganzen Prinzips dieser geschichtsphilosophischen Betrachtung, die
politische Kennzeichnung der Völker nicht getrennt werden von der all«
gemein kulturellen, vielmehr muß auf diese das entscheidende Gewicht
fallen. Der Staat ist gleichsam nur der Panzer, den der Organismus
eines Volkes zwar nicht von außen hernimmt und bloß anlegt, um ihn
nach Gebrauch wieder abzulegen, sondern, wie die Tierarten ihre natür»
lichen Schutz- und Angriffswaffen, aus sich selbst organisch hervorbringt;
der aber, für sich allein, auf das innere Gesetz der organischen Struktur
keinen sicheren Schluß erlauben würde.

In scharfer Ausprägung liegt die Art des russischen Staates zutage.
Er stellt noch fast ungeschmälert die urwüchsige Form selbstherrlicher Ge-
waltübung einer machtwilligen Minderheit auf ungeheure, zu eigenem
politischen Wollen noch kaum geweckte und vorbereitete, durch ein dumpfes
Zusammengehörigkeitsgefühl ursprünglich religiöser Art aber eng ver-
bundene Volksmassen dar. Solche Gewaltübung ist, in aller ihrer Roheit,
immerhin eine soziale Leistung; sie schafft, sei's auch nur in den Grenzen
des eigenen Interesses der Gewalthaber, immerhin etwas von äußerer
Ordnung. Aber sie wird in ihrer Unverantwortlichkeit freilich oft in er-
schreckendem Maße zur dreisten Ausbeutung der so gut wie rechtlosen Unter»
gebenen. And, da sie aus den in Anfreiheit, wirtschaftlicher Schwäche
und tiefer Rnbildung gehaltenen Massen auf die Dauer nicht das ihrer
Unersättlichkeit Genügende mehr herauszupressen vermag, so strebt sie ihren
Machtbereich ins Ungemessene nach außen zu erweitern. Sie drängt so
durch die lawinenartig wachsende Wucht der Masse einer Weltherrschaft
zu, die, wenn sie sich verwirklichen würde, nichts andres als die Rückgängig»
machung der Weltgeschichte bedeuten würde. In der Tat stellt das im
Zarismus zentrierte Russentum sich der ganzen entwickelteren Kultur des
Westens bewußt oder unbewußt feindlich entgegen.

Nun ist für diese Art des russischen Staats zwar nicht schlechtweg das
russische Volk im positiven Sinne verantwortlich zu machen. Aber die Ver»
antwortung für sie hat es in dem negativen Sinne allerdings zu tragen,
daß es bis dahin, als Ganzes, die Kraft sozialer Einsicht und sozialen
Wollens nicht aufgebracht hat, den Bann dieser Gewaltübung, durch die
ebenso es selbst niedergehalten wie die übrige Welt ständig bedroht wird,
zu brechen und sich ein Staatswesen zu schaffen, mit dem die Menschheit,
seine eigne und die der andern Völker, bestehen könnte.

Es muß also diese Beschaffenheit des russischen Staats mit der Eigenart
des russischen Volkes doch wohl in einem tiefen, inneren Zusammenhange
stehen.

Den Kern des russischen Wesens sehen die, die für seine tiefsten Kenner
gelten, in eben dem, was das Wesen der orientalischen Völker insgemein
zu sein scheint, in einer urwüchsig religiösen Tiefe und Macht des All»
heitsbewußtseins, wie es ergreifend in der russischen Literatur, besonders
Dostojewskis Romanen, sich ausspricht. Aber dies Bewußtsein verbleibt
im ganzen passiv, in dem Gewirre einander widerstreitender Möglichkeiten
befangen, aus deren Schoß phantasievolle Anschauungen, starke Gemüts»
erregungen, gewaltsame Taten reich und kraftvoll, doch chaotisch und erup-
tiv, und so vielfältig einander hemmend und durch Widerspruch verzehrend
hervorbrechen. Ist dies so, so mag man anerkennen, daß in diesem Volke
noch in zukunftsschwangerem Reichtum verborgene Ouellen des Menschen-
 
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