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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,1.1915

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1915)
DOI Artikel:
Natorp, Paul: Volkstum - Deutschtum
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.14291#0171

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tums sich sammeln mögen; aber es ändert nichts daran, daß es bis jeht
noch in eben den Anfängen steht, die durch eine höher hinauf führende
Entwicklung in andern Völkern, zum Teil schon seit Iahrhunderten, über»
schritten sind. Gerade jener tiefe religiöse Zug zum Aniversalismus, in
seiner urwüchsigen Stärke, aber auch Unentwickeltheit, droht, so wie jeht
die Sache liegt, nur zu einer neuen Stütze der politischen Ausbreitung
russischer Gewaltherrschaft zu werden, die alle über diesen primitiven Stand
hinausgeschrittene Kultur mit Antergang bedroht. So überzeugt, wie
kaum ein andres Volk, glaubt das russische, als „Volk Gottes", an seine
universal«menschheitliche Sendung. And auch seine Denker und Dichter,
eben jene, welche die tieferen Züge des Russentums am schärfsten in sich
ausgeprägt haben (wie Dostojewski), sind mit dem Weltherrschaftsanspruch
des russischen Staates, mögen sie diesem auch ein sehr andres Gesicht wün»
schen, innerlich ganz einverstanden. Sie empfinden darin in der Tat nur
„echtrussisch". Aber, wäre es der Friede, wäre es die harmlose Rnschuld
des Paradieses, was die russische Alleinherrschaft dem Menschengeschlecht
zurückzubringen verhieße — es kann, es will, es darf nicht über die einmal
verlassene Schwelle Ldens zurück. In einem Trotz, der aus seinem tzeilig-
sten stammt, verschmäht es die Seligkeiten des Paradieses um den Preis
der Unfreiheit. And so kann es nicht anders als dem Welteroberungs-
beschluß des tzimmelreiches der Knute unerbittlichen Widerstand entgegen»
setzen. Da aber uns Deutschen zuerst die Segnungen dieses tzimmelreiches
zugedacht waren, so hatten wir diesen Widerstand auf uns zu nehmen.

Rückhaltlos bejaht dagegen die „Zivilisation" Westeuropas den einmal
vollbrachten Schritt zur Freiheit, die sie in schroffer Deutlichkeit als das
Aufsichstehen, den ungehemmten Selbstwillen und die volle Selbstverant-
wortlichkeit des Individuums versteht. Dies aber in zwei ungleichen
Wendungen, deren eine im französischen, die andere im englischen Volks»
und Staatsgeist ihre deutlichste Ausprägung gefunden hat.

Der unterscheidende Grundzug der ersteren ist die Verallgemeinerung.
Mcht zufällig wurde „Freiheit und Gleichheit" das Schlagwort der Revo«
lution, die den französischen Staatsbegriff und den französischen Bürgertyp
schaffen sollte. So wenig die Individuen an inneren Fähigkeiten und
vollends an äußeren Machtmitteln gleich sind, die Fiktion gleicher Be-
rechtigung und Verpflichtung und die darin gegründete eines beherrschen-
den Gemeinwillens aller (Demokratie) wird in jedem Zuge der bürgerlichen
Verfassung festgehalten. And man kann nicht sagen, daß es eine durchaus
unwahre Fiktion wäre. Sie enthält wenigstens die Art von Wahrheit,
die einem buchstäblich nicht erfüllbaren, aber in irgendeinem Näherungs-
grade sehr wohl zu verwirklichenden Ideal innewohnt. Auch kommt in
dem nicht allzu stark mehr sich entwickelnden, an Volkszahl, daher an Ar»
beitsleistung und an Besitz wenig zunehmenden Rentnervolke von zugleich
alter, gefestigter Bildung dieser Forderung manches entgegen. Kaum ein
anderes Volk zeigt wenigstens dem nicht bis in die letzten Tiefen dringen-
den Blick eine so durchgehende Gleichheit nicht nur des äußeren Lebensstils
und der Sprache, sondern der ganzen Denk« und Empfindungsart. Bei
vergleichsweise so begrenzter innerer Differenzierung ist ein hoher Grad
gegenseitiger persönlicher Anabhängigkeit ohne zu scharfe Reibungen mög»
lich, vermag daher ein ziemlich täuschender Schein von Demokratie, bei
wirklich doch unleugbarer Oligarchie der Tonangebenden, sich zu erhalten.

Von sehr anderer Art, und doch dem letzten Prinzip nach verwandt,
 
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