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Die SchöiihcilsiLcc Lcs Millrlallers Int Ecgcnsah zur antiken und moderne».

Portrag, zu«, Bes,,,, des „G-rmanischii, Nati-n-ImnsenmS in Nürnberg" g-b-lt-n am 3«, März b. 3- »°n Dr. M. Sr.

Es ist merkwürdig z» beobachten, wie der germanische Geist, als die
Ahnung jener Differenz ihn zuerst Lbcrkam, in seinen, innersten Wesen sich
erschüttert fühlte und im eigentlichsten Sinne außer sich gerieth. — Die
Krcuzzugc, i» ihrer ganzen äußerlichen Plan- und Zwecklosigkeit, gewähre»
ein trauriges aber charakteristische« Bild dieses Außersichkonnnens, der Ver-
zweiflung und des Zersallenseiuö mit der vorhandenen Gegenwart Da« Grab
Christi in, fernen Osten zu suchen, zogen Hunderttansendc — nicht etwa zuerst
Ritter und Reisige, sondern waffenlose Pilger, Bettler, Kinder — in großen
Schaaren aus, um elendiglich zu verderben, ehe sie die Grenzen Europas ver-
laffen hatten. Es hatte sich ein völliger Wahnsinn der Böller bemächtigt. Was
suchten sie nun an, Grabe Christi? Da« Dieffeits, die positive Wirklichkeit,
da« lonlrete Dasein dcS göttlichen Geiste«: in der lola lcn Wiedererlangung
des heiligen Grabe« glaubten sie ihrem innerlichen Sehne» nach den, Jenseits,
durch die Flucht aus der schlechten Gegenwart ihrem absolntc» Bcdürfniß
nach den, wirklichen Schauen Gotte« in der Well Genüge Ihn» zu lötinen.
Aber „den ihr suchet, er ist „ich, hier: er ist anserstanden und
sihel zur Rechte» Gotte«:" da« hatte» sic vergessen.--

Nachdem so der germanische Geist durch ei» Mißverständniß seiner eigenen
Sehnsucht zuerst au« sich selber heransgetrieben wurde, »Nt die Lersöhnung.
mit sich zu suchen, quälte er sich ei» Jahrhundert hindurch in de» grausam-
ste» Wtder,prüchen und Mißverständniffe» ab. Die richtige Erlenntuiß der-
selben ist zur Beurtheilung des Mittelalters sehr wescntlick, weshalb ich
einige der hervorstehendfteu erwähnen will.

Reben dem kologalcn und wahrhaft selbst»,ördcrisä.e» Mißverständniß,
welches den Kreuzzngen zu Grunde lag, ,nacht sich in enger Verbindung damit
noch ein andere« Mißverständniß oder vielmehr eine BcgrisfSverwcchsclung
geltend. DgS Geistige soll herrschen - das ist das Prinzip, welche«
den Grnndzug der ganze» christlichgcrntanischcn Bewegung nach den, Bruch
Ntil dem Alterlhum bildet: da« Geistige soll herrsche»! allein, da das Herrschen
de« Geistes zunächst als ein Bekämpsen der Natur, als eine Abtödtung de«
Fleisches gefaßt wird, so wird unter dem Geistige» da« Geistliche ver-

standen. und d,e religwie Enipzindung durch biejc BegriffSverwcchselnng
aus den, Streben nach Sclbstbcfrciung und Erhebung de« Ge,sie« über d,c
Sinnlichkeit gerade in das -nlg-g-ngesctztc.Eslrcni getrieben, nämlich z» einer
Untcrlversnng nnter den konventionellen Kirchinglanben und unter die geistliche
Despotie. Dadurch tritt nun eine Vcrdninpfnng de« Geiste« ein, welche die
Quelle jener krassen Widersprüche ist, die nnö Heutes säst unglaublich vor-
kommen: die dentülhigstc Frömmigkeit neben der rohesten Brutalität de« Ge-
nusses, die begeistertste Andacht und Zerknirschung des Herzens neben der
barbarischsten Unsilllichkei», die rarlesicu Regungen in der ichwarnicrftche»
Liebe de« Rilterlhu,»« neben einer ganz inatcrillen Sinnlichkeit. Treue und
Ehre von einer wunderbaren Reinheit »eben schwärzester Treulosigkeit »nd
Unchrcnhasligkcit, «nd Alle« da« in denselben -Individuen. Aber durch alle
diese schneidenden Widersprüche, die sich auch heute z. B- noch in dem
italienischen Banditen wiederspiegeln, der, noch roth von den, Blute de« Raub-
mordes, sich vor seine,» Heiligen auf die Kiiie wirst »nd ihn, ei» feurige«
Dankgcbct für da« gute Gelingen seiner Thal darbringl: — durch alle diese
Widersprüche zieht sich das dinnpfe Sehnen des sich seiner innere» Zerspal-
tung halbbcwnßlen Geniüth« »ach Befreiung »nd Bersöhnung hindnrch und
breitet über diese inerkwürdige Zeit den Traucrschleier einer tiefen Wehninih.
In solcher Halbdännnerung de« sittlich-rcligiösen Gefühl« ist e« natürlich, daß
da« ängstliche Her, zur Geipen>icri»rcht geneigt wird; Mystizismus, Fana.
tiöinus, Wnndersucht, Zauberei und Hcxcnprozeffe: in alle» diesen Verirrungen
spiegelt sich nur die Selbsttäuschung des sehnenden Gemüths ab, welche« rer-
langt, die nnniiltelbarc Gegenwart dcS Unendlichen im, Diesseits z» erfaffen.
Dieser Zwiespalt »Nißle schließlich, wenn die Spannnng der Widersprüche bi«
zun, Extrem der Unsinnigkci, gelangt war — wie in de» Ablaßkräinercien
lind vielen anderen Erscheinnngen — zu einer gcwaltsanien Reaktion führe»;
»nd zwar z» einer Reaktion des G eisti ge» gegen da« G e ist li che. Die Roh-
heit »nd Unsittlichkeil der Geistlichen, welche da« Geistige in'S schlinnnstc
Gegcntheil verkehrte, öffnete dem Sichte de« gesunde» Mciisch-nverstandeS eine
Spalte in jene Halbdanuncruna. Bald strömte das Licht i» größere» Maffen
 
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