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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 30.1912

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Rodin, August: Von der Zeichnung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7108#0121

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VON DER ZEICHNUNG. Man glaubt all-
gemein, daß die Zeichnung an sich schön
sein kann. Sie ist jedoch schön nur durch die
Wahrheiten, durch die Empfindungen, die sie
ausdrückt. Man bewundert die an Einfällen
reichen, routinierten Künstler, die schöne, aber
ganz bedeutungslose Konturen ziehen und ihre
nichtssagenden Figuren in anmaßender Weise
hinstellen. Man gerät in Entzücken über Stel-
lungen, die man nie und nimmer in der Natur
wahrnimmt und die man für künstlerisch hält,
weil sie an die Gliederverrenkungen erinnern,
denen die italienischen Modelle sich hingeben,
wenn sie sich um Sitzungen bewerben. Und so
etwas nennt man dann gewöhnlich die „schöne
Zeichnung". In Wirklichkeit ist das nichts an-
deres als eine Taschenspielerkunst, die höch-
stens Maulaffen verblüffen kann.

Es gibt eine Zeichnung in der Kunst, wie es
einen Stil in der Literatur gibt. Ein Stil, der
gesucht und geschraubt wird, um aufzufallen,
ist schlecht.....Künstler, die mit ihrer Zeich-
nung prunken, Schriftsteller, die das Lob auf
ihren Stil lenken wollen, gleichen Soldaten, die
sich in ihrer Uniform brüsten, jedoch weigern
würden, in die Schlacht zu gehen, oder Ackers-
leuten , die, anstatt den Pflug in die Erde zu

senken, nur darauf bedacht wären, die Pflug-
schar fortwährend blank zu putzen.

Man bewundert Raffaels Zeichnungen und
zwar mit Recht. Man muß sie jedoch nicht an
sich bewundern, das heißt wegen der mehr oder
minder geschickt verteilten Linien; man muß
sie um ihres Gehaltes willen lieben. Ihr Haupt-
vorzug ist die unsagbar köstliche Heiterkeit der
Seele, die in Raffaels Augen lebte und durch
seine Hand zum Ausdruck gelangte, ist die Liebe,
die aus seinem Herzen über die ganze Natur sich
zu ergießen scheint. Alle, die ohne diese Innig-
keit des Gefühls dem Meister von Urbino den
Linienrhythmus und die Gebärden seiner Figuren
zu entlehnen versuchten, haben nichts weiter
als höchst fade Nachbildungen fertiggebracht.

An Michelangelos Zeichnungen muß man
nicht die Umrisse an sich, weder die kühnen
Verkürzungen, noch die vollendeten Aktstudien
bewundern, sondern die tobende, in wilder
Verzweiflung aufschreiende Kraft und Gewalt
dieses Titanen. Buonarrotis Nachahmer haben
in der Malerei seine wie mit Stangen gestützten
Stellungen und seine angespannten Muskula-
turen einfach abgeschrieben. Ohne Michelan-
gelos Seele wirkten sie nur lächerlich.

AUGUSTE RODIN. DIE KUNST. VERLAG ROWOHLT-I.EIPZIG.

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