Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 30.1912

DOI Artikel:
Georgi, Walter: Kunstwerk und Persönlichkeit
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7108#0240

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
KUNSTWERK UND PERSÖNLICHKEIT.

VON DR. WALTER GEORGI MÜNCHEN.

Als sichtbarer Niederschlag einer diesseits-
r\ frohen Zeit standen die Tempel Griechen-
lands in ihrer abgeklärten Schönheit. Die ro-
manischen Kirchen des Mittelalters trugen die
mönchische Gottesfurcht an der Stirne. Aus
der verzehrenden Sehnsucht nach der Welt des
Göttlichen wuchsen die schlanken Pfeiler und
Bogen gotischer Kathedralen empor. Noch
heute spricht aus diesen Stilformen die Emp-
findungswelt vergangener Epochen mit ein-
dringlicher, verständlicher Sprache ohne Verlust
an innerer Überzeugungskraft. Dürers Apostel,
Raphaels Madonnen und Michelangelos Moses
sind die Kinder einer gleichen inneren, unver-
gänglichen Sprache. Sie sind Persönlichkeiten
in Stein und Farbe, losgelöst von dem ringen-
den Ich eines Künstlers, dennoch mit jeder
Faser in ihm wurzelnd und in der Harmonie
des Einzelnen die Harmonie des Weltganzen
wiederspiegelnd. Das danken sie der freien,
rückhaltlosen Hingabe der Meister, die im

künstlerischen Gestaltungsprozeß aus ihrer in-
nersten Persönlichkeit lebendige Werke form-
ten, die kraft eigener Bedeutsamkeit das Zeit-
alter ihrer Erzeuger überdauern und ohne
Scheu jeden Vergleich mit den künstlerischen
Taten der nachfolgenden Geschlechter auszu-
halten vermögen.

Die Manifestation der Persönlichkeit im
Kunstwerk ist ebenso alt wie die Kunst selbst.
Schon die erste primitive Kunstregung birgt
im Keim jene Anfänge der persönlichen Note,
die in der Fortentwicklung der Völker jedes
echte Kunstwerk in mannigfachen Schattierun-
gen belebt und zum Wertmesser aller Kunst
wurde. Das Gegenständliche tritt hinter das
Persönliche zurück. Nicht das rührende Motiv
einer verzweifelten Gretchengestalt erhebt
einen ohne weiteres begründeten Anspruch
auf Beachtung als wertvolles Kunstwerk, erst
die vom Künstler in der Darstellung zum
Ausdruck gebrachten persönlichen Beziehun-

225
 
Annotationen