KLEINE KUNST-
juni
FUTURISTEN. In le^ter Zeit sind uns manche
angebliche Neuerungen auf dem Gebiete der
Kunst aus der Werkstatt der Neo-Secessionisten
aufgetischt worden; es handelte sich in den weit-
aus meisten Fällen um ein mißverstandenes und
häufig dazu talentloses Verarbeiten, also Ver-
pfuschen der Ideen Cezannes und van Goghs. Ein
Kubist, wie der Franzose Picasso, macht bis zu
einem Grade immerhin eine Ausnahme, da seine
Art System und Konsequenz verrät, also nach allen
Seiten als mit Gründlichkeit durchgeführt auftritt,
mag er sich auch dem dürrsten Manierismus ver-
schrieben haben, den er selber wohl kaum länger
als ein paar Jahre ohne Degout wird ertragen
können. Eine andere Bewandtnis hat es mit den
italienischen Futuristen, die ebenso abgetan wurden.
Wir vernahmen zuerst von ihnen vor zwei Jahren,
als sie in Venedig ihr schmetterndes Manifest unter
die Bevölkerung streuten, einige Zentner bedrud<ter
Zettel, so dag man sich wunderte, wie sie die Last
auf den Campanile hinaufgeschleppt hatten. Dies
aber war sozialreformerisch verallgemeinernd, da-
her es kaum einen Schluß auf ihre Malerei zuließ,
keine Vorstellung von ihr erweckte. Nun hatten
wir Gelegenheit, die Bilder in Berlin zu sehen,
— wofür wir Herrn Herwarth Waiden, dem Veran-
stalter, dankbar sein müssen — und den Dichter
Marinetti, den Führer der futuristischen Schule in
Italien, in einer Conference zu hören über seine und
seiner Gesinnungsgenossen Prinzipien. Doch da-
mit, d. h. mit dem dichterischen und sozialen Teil
des Programms dieser jüngsten Bewegung, kann
ich mich an dieser Stelle nicht befassen. Ich
möchte nur von den Eindrücken reden, die die
33 Bilder der fünf jungen Maler Boccioni, Carra,
Russolo, Balla und Severini, die verstreut in
Mailand, Rom und Paris leben und dennoch so ge-
meinschaftlich denken und schaffen, als hausten
sie unter einem Dache, auf mich machten und auf
die Ursachen weisen, darauf ihre Wirkung sich
gründet. Dabei kann ich mich in eine Kon-
troverse mit den Manifestanten, so anziehend eine
solche wäre, im Augenblick nicht einlassen. Also
nur einige Bemerkungen: Man hat die Entwick-
lung des Impressionismus verfolgt und glaubt nach
den Abzweigungen kleinerer Seitenschulen, die
sich gegen ihn auflehnten, aber längst an Blutleere
eingingen, seinen Abschluß in Cezanne und van Gogh
konstatieren zu dürfen. Die Epigonen, die mit deren
Erbe schachern, kommen nicht in Betracht. So
sinnt man in die Zukunft und weiß nicht recht, wie
es weiter gehen soll: auf einen Schlag ist das
Neue da ; über Nacht gleichsam hat der wachsende
NACHRICHTEN.
1912.
Ring am Entwicklungsglied angesetjt. Die Futu-
risten. Man mag über diese neueste Phase denken
wie man will — gegen das ästhetische und soziale
Programm ihrer Träger wäre gar vieles einzuwenden
— alle Indizien für eine eigene, selbständige Kunst-
bewegung innerhalb der Malerei (dichterisch und
sozialreformerisch scheint mir nämlich das futu-
ristische Programm bei einem Seitenblick auf Walt
Whitman gar nicht so überraschend neu) sind
gegeben. Fünf junge Leute erscheinen auf dem
Plan, ausgestattet mit dem technischen Rüstzeug
ihrer unmittelbaren Vorgänger — wenn auch ohne
an die großen Schöpfer unter diesen heranzureichen
— und lösen, von gemeinsamen geistigen Impulsen
getragen, gleichen Zielen angezogen, ohne auf
den individuellen Einschlag zu verzichten, Aufgaben,
die sich zum Teil vor ihnen keiner in der Kunst
stellte, kurzum, sie erschließen neues Gebiet. Nichts
weniger beabsichtige ich nun, als mich selbst durch
diesen Zuspruch mit den Ambitionen jener zu identi-
fizieren, es liegt mir einzig daran, ein organisch
Gewachsenes aus seinen Bedingungen heraus zu
verstehen und zu erklären. Wenden wir uns z. B.
bestimmend dem eigentlich Neuen dieser Malerei
zu, so findet sie uns schon als ihren Gegner,
denn es ist im Grunde negativer Natur; einmal,
weil es sich nur auf den Inhalt erstreckt, selbst
da, wo vom eigentlichsten Gegenstande der Malerei,
von der Optik gehandelt wird, alsdann, weil der
Inhalt in den meisten Fällen rein literarischer
Art, ein malerisch gar nicht darstellbarer ist,
und dann überhaupt einer Empfindungssphäre
angehört, die wir durchaus nicht für so be-
deutend halten, wie sich die Futuristen es ein-
reden: hier ist dann auch wieder der Punkt, wo
wir aufs Poetische und Soziale ihres Programms
übergreifen müßten und ihnen darlegen, daß ihr
ganzer Ideenkreis nichts ist als eine Variation des von
uns für die Kunst längst als überwunden erkannten
Milieuprinzipes. Sie scheinen nicht zu wissen, wie
wenig sie sich als Poeten z. B. mit dem Besingen
eines sausenden Automobils vom Kunstprinzip Zolas
und dessenmannigfachenWandlungen entfernt haben.
Kurzum, sie stecken als Denker noch mit Haut und
Haaren im Materialismus, während wir uns längst an-
deren, ewigen Grundzügen derMenschenseele, die mit
einer Äußerungsform durch den Milieu-Charakter
nichts zu tun haben, wieder zuwendeten. Aber es
ist immerhin interessant, zu beobachten, wie all
das, was wir im nördlichen Europa schon längst
erlebten und hinter uns haben, nun verspätet und
in einer konzentrierten Form, man könnte sagen in
seiner Synthese aus dem südlichen Italien, das so-
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FUTURISTEN. In le^ter Zeit sind uns manche
angebliche Neuerungen auf dem Gebiete der
Kunst aus der Werkstatt der Neo-Secessionisten
aufgetischt worden; es handelte sich in den weit-
aus meisten Fällen um ein mißverstandenes und
häufig dazu talentloses Verarbeiten, also Ver-
pfuschen der Ideen Cezannes und van Goghs. Ein
Kubist, wie der Franzose Picasso, macht bis zu
einem Grade immerhin eine Ausnahme, da seine
Art System und Konsequenz verrät, also nach allen
Seiten als mit Gründlichkeit durchgeführt auftritt,
mag er sich auch dem dürrsten Manierismus ver-
schrieben haben, den er selber wohl kaum länger
als ein paar Jahre ohne Degout wird ertragen
können. Eine andere Bewandtnis hat es mit den
italienischen Futuristen, die ebenso abgetan wurden.
Wir vernahmen zuerst von ihnen vor zwei Jahren,
als sie in Venedig ihr schmetterndes Manifest unter
die Bevölkerung streuten, einige Zentner bedrud<ter
Zettel, so dag man sich wunderte, wie sie die Last
auf den Campanile hinaufgeschleppt hatten. Dies
aber war sozialreformerisch verallgemeinernd, da-
her es kaum einen Schluß auf ihre Malerei zuließ,
keine Vorstellung von ihr erweckte. Nun hatten
wir Gelegenheit, die Bilder in Berlin zu sehen,
— wofür wir Herrn Herwarth Waiden, dem Veran-
stalter, dankbar sein müssen — und den Dichter
Marinetti, den Führer der futuristischen Schule in
Italien, in einer Conference zu hören über seine und
seiner Gesinnungsgenossen Prinzipien. Doch da-
mit, d. h. mit dem dichterischen und sozialen Teil
des Programms dieser jüngsten Bewegung, kann
ich mich an dieser Stelle nicht befassen. Ich
möchte nur von den Eindrücken reden, die die
33 Bilder der fünf jungen Maler Boccioni, Carra,
Russolo, Balla und Severini, die verstreut in
Mailand, Rom und Paris leben und dennoch so ge-
meinschaftlich denken und schaffen, als hausten
sie unter einem Dache, auf mich machten und auf
die Ursachen weisen, darauf ihre Wirkung sich
gründet. Dabei kann ich mich in eine Kon-
troverse mit den Manifestanten, so anziehend eine
solche wäre, im Augenblick nicht einlassen. Also
nur einige Bemerkungen: Man hat die Entwick-
lung des Impressionismus verfolgt und glaubt nach
den Abzweigungen kleinerer Seitenschulen, die
sich gegen ihn auflehnten, aber längst an Blutleere
eingingen, seinen Abschluß in Cezanne und van Gogh
konstatieren zu dürfen. Die Epigonen, die mit deren
Erbe schachern, kommen nicht in Betracht. So
sinnt man in die Zukunft und weiß nicht recht, wie
es weiter gehen soll: auf einen Schlag ist das
Neue da ; über Nacht gleichsam hat der wachsende
NACHRICHTEN.
1912.
Ring am Entwicklungsglied angesetjt. Die Futu-
risten. Man mag über diese neueste Phase denken
wie man will — gegen das ästhetische und soziale
Programm ihrer Träger wäre gar vieles einzuwenden
— alle Indizien für eine eigene, selbständige Kunst-
bewegung innerhalb der Malerei (dichterisch und
sozialreformerisch scheint mir nämlich das futu-
ristische Programm bei einem Seitenblick auf Walt
Whitman gar nicht so überraschend neu) sind
gegeben. Fünf junge Leute erscheinen auf dem
Plan, ausgestattet mit dem technischen Rüstzeug
ihrer unmittelbaren Vorgänger — wenn auch ohne
an die großen Schöpfer unter diesen heranzureichen
— und lösen, von gemeinsamen geistigen Impulsen
getragen, gleichen Zielen angezogen, ohne auf
den individuellen Einschlag zu verzichten, Aufgaben,
die sich zum Teil vor ihnen keiner in der Kunst
stellte, kurzum, sie erschließen neues Gebiet. Nichts
weniger beabsichtige ich nun, als mich selbst durch
diesen Zuspruch mit den Ambitionen jener zu identi-
fizieren, es liegt mir einzig daran, ein organisch
Gewachsenes aus seinen Bedingungen heraus zu
verstehen und zu erklären. Wenden wir uns z. B.
bestimmend dem eigentlich Neuen dieser Malerei
zu, so findet sie uns schon als ihren Gegner,
denn es ist im Grunde negativer Natur; einmal,
weil es sich nur auf den Inhalt erstreckt, selbst
da, wo vom eigentlichsten Gegenstande der Malerei,
von der Optik gehandelt wird, alsdann, weil der
Inhalt in den meisten Fällen rein literarischer
Art, ein malerisch gar nicht darstellbarer ist,
und dann überhaupt einer Empfindungssphäre
angehört, die wir durchaus nicht für so be-
deutend halten, wie sich die Futuristen es ein-
reden: hier ist dann auch wieder der Punkt, wo
wir aufs Poetische und Soziale ihres Programms
übergreifen müßten und ihnen darlegen, daß ihr
ganzer Ideenkreis nichts ist als eine Variation des von
uns für die Kunst längst als überwunden erkannten
Milieuprinzipes. Sie scheinen nicht zu wissen, wie
wenig sie sich als Poeten z. B. mit dem Besingen
eines sausenden Automobils vom Kunstprinzip Zolas
und dessenmannigfachenWandlungen entfernt haben.
Kurzum, sie stecken als Denker noch mit Haut und
Haaren im Materialismus, während wir uns längst an-
deren, ewigen Grundzügen derMenschenseele, die mit
einer Äußerungsform durch den Milieu-Charakter
nichts zu tun haben, wieder zuwendeten. Aber es
ist immerhin interessant, zu beobachten, wie all
das, was wir im nördlichen Europa schon längst
erlebten und hinter uns haben, nun verspätet und
in einer konzentrierten Form, man könnte sagen in
seiner Synthese aus dem südlichen Italien, das so-
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