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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

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Michel, Wilhelm: "Genug ist nicht genug"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0102

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„GENUG IST NICHT GENUG"

Ich lese: „Hauptbestreben des modernen
Wohnhauses ist es, das Haus, den Raum,
die Gebrauchsgegenstände streng auf das Maß
des Menschen zu bringen. Denn es ist eine der
Entdeckungen der Zeit, daß die genannten
Dinge das Maß des Menschen noch nicht ge-
funden haben; und zwar verfehlen sie es meist
nach der Seite einer Überschreitung hin. Man
braucht nur an den Begriff der „Repräsen-
tation" zu denken, um alsbald einen häufigen
Fall dieser Überschreitung vor Augen zu haben.
Was ist hierzu zu sagen?
Daß Haus, Raum und Möbel das „Maß des
Menschen" haben sollen, ist an sich eine durch-
aus vernünftige Formulierung. Aber ihre Ver-
nünftigkeit hängt ersichtlich davon ab, was man
unter dem menschlichen „Maß" versteht. Es
erhebt sich die Frage: ist das Maß des Men-
schen durch seine rein physischen Bedürfnisse,
durch die nackten Erfordernisse des Existierens
und Arbeitens eindeutig bestimmt? Wenn das
der Fall ist, dann genügt ihm ein Kubikinhalt
an Raum, der gesunde Atemluft sicherstellt;
es genügt ihm ein Flächenraum, der eine be-
queme Unterbringung der notwendigen Möbel
und Arbeitsgeräte ermöglicht. Auf diesem
Standpunkt scheinen in der Tat einige moderne
Architekten zu stehen; jene nämlich, die im
Gegensatz zu der großtuerischen Geste gewisser

früherer Bauperioden einer „kleintuerischen"
Haltung huldigen. Aber gegen diese ökono-
mische Einstellung erhebt sich die psycholo-
gische Erfahrung und betont mit Nachdruck:
Nein, das eben Genügende ist durchaus nicht
identisch mit dem menschlichen Maß. Denn
Räume, Raumverhältnisse mit all ihrem Drum
und Dran haben außer ihrer leibhaftigen Funk-
tion noch eine andre Seite, die gerade für den
Menschen die bei weitem wichtigste ist; und
das ist die psychische, also die zentrale und
entscheidende Einwirkung auf den Bewohner.
Wer sich in enge Räume zu ständigem Ver-
weilen begibt, der schränkt sich seelisch ein,
der macht einen kleinen, verkümmerten,
schwunglosen Menschen aus sich, mögen auch
diese Räume für sein Existieren und Arbeiten
durchaus genügend sein. Hier gilt in vollem
Ernst das Wort von C.F.Meyer: „Genug ist
nicht genug!" „Genügend" ist ein Raum für
den Menschen erst dann, wenn er ihm die psy-
chischen Hilfen gibt, deren kein Wesen in dem
hohen Grade bedarf wie der Mensch. Wer sich
den Raum verkürzt, in dem er lebt, der ver-
kürzt sich die Nahrung, der beschneidet sich
die notwendigsten Bedingungen seines Daseins;
mit anderen Worten: der verfehlt exemplarisch
das „Maß des Menschen". Raumweite, selbst-
verständlich in vernünftigen Maßen, ist mehr

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