WERKBUND-TAGUNG IN WIEN
Während der letzten Tage des Juni hat der
Deutsche Werkbund seine 19. Jahres-
versammlung abgehalten. In Wien, wo eine
Ausstellung des Oesterreichischen
Werkbundes stattfindet. Die Ausstellung
zeigt alle Vorzüge der musikalischen und der
mathematischen Sinnlichkeit, die wir an unsern
Wiener Freunden schätzen; mit fleischlichem
Wohlgefühl erlebt man die ordnende Hand, die
distanzierende Leidenschaft, die kühle Sicher-
heit Josef Hoffmanns. Im Garten, dem
liebenswürdigsten Teil der Ausstellung, sitzend,
besonders des Nachts, eingefaßt von leuchten-
den Flächen und klingenden Linien, vergißt
man schnell und willig, daß theorelisiert, disku-
tiert und irgend etwas beschlossen werden soll.
Man vergißt es auch sonst, hier, in Wien, daß
ein Kongreß abgehalten wird, eine schwer-
blütige, mit Grundsätzen beladene Debatte;
man vergißt es, während Augen und Seele
zwischen Barock und Otto Wagner, zwischen
Schönbrunn und Grinzing hin und her Iiiegen.
Das ist es; man fliegt in Wien. Fliegt in einer
verzauberten Atmosphäre. Das ist es zum an-
deren: es gibt hier Atmosphäre, nicht nur die
Luft, die der Mensch braucht, um leben zu
können. Atmosphäre ist etwas subtileres, ist
die Tausendfältigkeit des Unwägbaren. Ist eine
Tragkraft, eine Tanzkraft, die alles durch-
strömt, was ihr nahekommt. Das ist das Sym-
pathische, was von dieser Werkbundtagung zu
melden bleibt: gleichgestimmte Liebhaber, die
in den Größenverhältnissen der Dinge, im Ge-
wicht und in der Harmonie der Stoffe das Ent-
scheidende sehen, trafen sich, berührten sich
mit den Fingerspitzen, mit skeptischen und pa-
thetischen Worten, mit Herzen, die um viele
Grade wärmer waren, als sie es sonst sind. Im
übrigen hat diese Wiener Werkbundtagung nicht
viel Neues gebracht, nichts Grundsätzliches,
nichts Aufregendes, keine Revolution, kein
neues Dogma, nicht einmal einen kommenden
Propheten. Aber sie war und bleibt dennoch
eine innere Bereicherung für jeden, der an ihr
teilgenommen hat. Atmosphäre, es ist in uns
die jugendlich alte, die alte jugendliche, die
seltsam präzise, die tänzerisch schwärmende
Atmosphäre Wiens eingetröpfelt, eingebraust,
XXX1U. August 1930. 7
Während der letzten Tage des Juni hat der
Deutsche Werkbund seine 19. Jahres-
versammlung abgehalten. In Wien, wo eine
Ausstellung des Oesterreichischen
Werkbundes stattfindet. Die Ausstellung
zeigt alle Vorzüge der musikalischen und der
mathematischen Sinnlichkeit, die wir an unsern
Wiener Freunden schätzen; mit fleischlichem
Wohlgefühl erlebt man die ordnende Hand, die
distanzierende Leidenschaft, die kühle Sicher-
heit Josef Hoffmanns. Im Garten, dem
liebenswürdigsten Teil der Ausstellung, sitzend,
besonders des Nachts, eingefaßt von leuchten-
den Flächen und klingenden Linien, vergißt
man schnell und willig, daß theorelisiert, disku-
tiert und irgend etwas beschlossen werden soll.
Man vergißt es auch sonst, hier, in Wien, daß
ein Kongreß abgehalten wird, eine schwer-
blütige, mit Grundsätzen beladene Debatte;
man vergißt es, während Augen und Seele
zwischen Barock und Otto Wagner, zwischen
Schönbrunn und Grinzing hin und her Iiiegen.
Das ist es; man fliegt in Wien. Fliegt in einer
verzauberten Atmosphäre. Das ist es zum an-
deren: es gibt hier Atmosphäre, nicht nur die
Luft, die der Mensch braucht, um leben zu
können. Atmosphäre ist etwas subtileres, ist
die Tausendfältigkeit des Unwägbaren. Ist eine
Tragkraft, eine Tanzkraft, die alles durch-
strömt, was ihr nahekommt. Das ist das Sym-
pathische, was von dieser Werkbundtagung zu
melden bleibt: gleichgestimmte Liebhaber, die
in den Größenverhältnissen der Dinge, im Ge-
wicht und in der Harmonie der Stoffe das Ent-
scheidende sehen, trafen sich, berührten sich
mit den Fingerspitzen, mit skeptischen und pa-
thetischen Worten, mit Herzen, die um viele
Grade wärmer waren, als sie es sonst sind. Im
übrigen hat diese Wiener Werkbundtagung nicht
viel Neues gebracht, nichts Grundsätzliches,
nichts Aufregendes, keine Revolution, kein
neues Dogma, nicht einmal einen kommenden
Propheten. Aber sie war und bleibt dennoch
eine innere Bereicherung für jeden, der an ihr
teilgenommen hat. Atmosphäre, es ist in uns
die jugendlich alte, die alte jugendliche, die
seltsam präzise, die tänzerisch schwärmende
Atmosphäre Wiens eingetröpfelt, eingebraust,
XXX1U. August 1930. 7