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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

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Pfister, Kurt: Der siebzigjährige Ensor
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https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0182

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morice lipszyc—paris

»sitzende frau« 192h

DER SIEBZIGJÄHRIGE ENSOR. In Ost-
ende, wo er geboren wurde, lebt der
Maler James Ensor, der in diesen Tagen den
siebzigsten Geburtstag begeht, wenigen Freun-
den vertraut, unter seinen Landsleuten als Son-
derling verrufen. In Deutschland haben in den
letzten Jahren mehrere umfassende Ausstel-
lungen (in Hannover und Mannheim) Bewunde-
rung und Verständnis für sein Werk geschaffen
Im Jahre 1883 ist wohl das erste jener Bil-
der entstanden, in denen Ensors Wesen sich
entfaltet: in eine Wirtsstube, in der ein Trinker
bei seinem Glase sitzt, tritt eine Gestalt, die
Klapper in der Hand, deren vorgebundene
Maske den Ausdruck grauenhafter Trostlosig-
keit zeigt. Alles ist wie sonst: die Wände, der
Tisch des Gemaches, aber nun ist etwas Neues,
Schreckhaftes eingetreten: eine der Türen, die
die Grenzen des Seins versperren, ward aufge-
stoßen und der seltsame Luftzug jenseitiger
Sphären weht herein. Das gleichnishafte Wesen
alles irdischen Daseins, das maskenhaft ist und

zugleich hinter der sichtbaren Erscheinung ein
geheimnisvolles, spirituelles Leben birgt, hat
Ensor nun unablässig wie die Luft der Atmo-
sphäre eingeatmet. Er sucht sein Rätsel in
allen Erscheinungen zu fassen: in den Fischen
des Meeres, in den Blumen der Gärten, die
dem Beschauer entgegenstarren, als wären sie
von langem, schmerzlichen Schicksal genährt;
in den Räumen des Hauses und der Ebene,
deren Luft vom Leben vielfacher Dämonen
durchflutet ist; in den Gesichtern von Men-
schen, in deren Blut und Nerven das Leben
vieler Generationen zu müden Linien gerinnt.

Freunde berichten, daß Ensor heute wenig
mehr male, daß er lange Stunden an seinem
Harmonium sitze und burleske und traurige
Melodien spiele. Vor einigen Jahren hat er ein
Marionettenspiel „Die Stufenleiter der Liebe"
gedichtet und vertont, in dem Masken und
Skelette, seidene Frauen und melancholische
Harlekins im Schatten der Kathedrale ihr buntes
und schmerzliches Spiel treiben, kurt pfister.
 
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