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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

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Michel, Wilhelm: "Genug ist nicht genug"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0104

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Genug ist nicht genug«.

als eine ästhetische Angelegenheit; sie ist eine
Kraftquelle, sie ist ein Zuwachs an Lebens-
kapital, sie ist eine Lebensförderung, sie ist
eins der Grunderfordernisse der seelischen
Hygiene. Eine Tür, die hoch genug ist, daß
ein Mensch erhobenen Hauptes hindurchgehen
kann, ist eben durchaus nicht „hoch genug".
Sie erreicht das „Maß des Menschen" erst
dann, wenn sie das Maß des berechenbaren
Bedürfnisses fühlbar und womöglich splen-
did überschreitet. Eine Küche, die gerade
genügenden Raum für alle notwendigen Ver-
richtungen bietet, ist nicht nach dem Maß
des Menschen; das beginnt sich erst da zu er-
füllen, wo über die feststellbaren Minimal-Ab-
messungen hinaus der Überfluß eintritt. Der
Überfluß — der ist das Maß des Menschen.
Und zu diesem Maß wird der Mensch immer
wieder zurückkehren, wie ein Tier, das die zu
ihm gehörigen Lebensbedingungen immer wie-
der herzustellen versuchen wird.

Wir leugnen nicht, daß gegenwärtig für den
Haus- und Wohnbau ein Zwang vorliegt, aus
dem nüchternen Zweckdenken heraus zu ge-

stalten. Die Architekten, die diesem Zwange
folgen, gehorchen einem bestimmten, geistes-
geschichtlichen Antrieb und sind daher in ihrem
guten Recht. Nur müssen sie sich klar darüber
sein, daß sie sich dabei nicht auf das „Maß des
Menschen" berufen dürfen, sondern nur auf
das Maß bestimmter, aus dem Gesamtleben
des Menschen herausgelöster Einzelbedürfnisse.
Wir müssen gegenwärtig versuchen, wie weit
wir mit dem kalten, nüchternen Zweckdenken
gelangen können; denn dieses Zweckdenken
ist ein wichtiges Prinzip der Abkehr vom Ge-
wesenen, ein Prinzip der Erneuerung. Aber mit
dem Maß des Menschen hat es nicht viel zu
tun; im Gegenteil: es bewirkt die Erneuerung
gerade dadurch, daß es zunächst das Maß des
Menschen unterbietet, um dann vielleicht auf
ganz neuen Wegen wieder zu menschlichem

Maß zurückzufinden....... wilbelm michel.

*

/GESTALTUNG. Eine gestaltende Lösung ist
vJ keine Angelegenheit des Geschmacks, son-
dern eine Realität, welche auf unserer neuen
Weltvorstellung beruht. . . theo van doesburg.

WERNER PEINER—DÜSSELDORF. GEMÄLDE »ZITRONEN« 1928

mit genehmigung der galerie abels—köln
 
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