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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

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Michel, Wilhelm: Europäische Kunstbeziehungen
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0193

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Europäische Kunstbczichungen

adolf ott—dortmund

»das teehaus< haus s.

der Geschichte studiert hat — der wird einen
so starken Begriff von der mysteriösen jewei-
ligen Gleichgestimmtheit der Menschen bekom-
men, daß er versucht wird, an eine Art klima-
tischen oder meteorologischen Gesamteinflusses
zu glauben. Man kann sich ohne Zuhilfenahme
einer solchen Hilfsvorstellung in der Tat kaum
erklären, wie es zu gewissen Allgemeinbe-
wegungen ganzer Völkergruppen, ganzer Erd-
teile kommen konnte, wie solche etwa in der
Renaissance, in der Romantik usw. vorliegen.
Es ist zwar seit Oswald Spengler üblich ge-
worden, den Lebensgang einer jeden Kultur-
gruppe als einen in sich geschlossenen Ablauf
aufzufassen; aber es gibt Wirkungen der Welt-
stunde, die uns deutlich fühlen lassen, daß wir,
quer über alle räumlichen Grenzen hinweg, unter
einer Allmacht der Zeit stehen. Wenn z. B.
im gleichen Zeitpunkt, nämlich in der ersten
Jahrtausendhälfte vor Christus, Buddha in
Indien, Zoroaster in Persien, die großen Pro-
pheten in Palästina, die großen Tragiker und
Philosophen in Griechenland auftreten — wer
vermöchte sich da dem Gefühl zu entziehen,
vor einer Wirkung der Weltstunde zu stehen,

vor der geheimnisvollen Wirkung eines mäch-
tigen, begnadeten Augenblicks, der über zwei
Erdteile hinweg eine besondere Fruchtbarkeit
an großen, führenden Geistern hervorrief?

Das Gleiche bewährt sich tausendfach in
kleinerem Maßstab, auf spezielleren Gebieten;
vorab auf dem Gebiete der Kunst und der zeit-
bestimmten Geistesregung. Mit Staunen sehen
wir, so oft wir über die Grenzen schauen, in
Frankreich, in England, in Rußland die Berufs-
genossen um Probleme bemüht, die im Inner-
sten unsrer Brust aufgetaucht zu sein schienen.
Mit Staunen gewahren wir, daß wir gewisse
fremdländische Gedanken und Werke manch-
mal besser kennen als Dinge, die Wand an
Wand mit uns entstanden sind. Und wir kön-
nen aus diesen Beobachtungen nur die Lehre
ziehen, daß die Zeitgewalt weiter reicht als unser
Land. Zwar leben wir immer in der lebendigen
Entwicklungslinie unsres Volkes und wissen
uns ihm freudig zu jeder Treue verpflichtet.
Aber zugleich stehen wir unter einem Zeit-
schicksal, das gewaltig über viele Räume hin-
weg reicht und uns mit Unzähligen verbrüdert,
die wir mit Augen nie gesehen haben. . . w. m.
 
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