Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Das Geheimnis des Ornaments
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0337

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DAS GEHEIMNIS DES ORNAMENTS

Verstehen kann man eine Sache nur, wenn
man die in ihr wirksame Kraft erblickt.
Das Lebende und Treibende in ihr muß man
sehen — dann erst* wird das Gebilde sinnvoll,
dann erst empfängt es für unser Bewußtsein den
rechten Bestand und die wahre Legitimation.

Das gilt in hervorragendem Grade für das Or-
nament. Wenn wir heute von Ornament reden,
so meinen wir: Zierat, Zutat, Schmuck, Dekor.
Wir meinen ein rhythmisches Etwas an Linien,
Farben, Flächen, das zur eigentlichen „Sache"
hinzukommt als ein für das Auge angenehmer
Überfluß, als eine bloß ästhetische Funktion.
Ornament, wie wir es heute verstehen — das
kann man nach freier Wahl hinzutun und kann
es auch nach freier Wahl wieder herunter-
schlagen oder fortnehmen, ohne daß dadurch
das Eigentliche der Sache, sei diese ein Haus,
ein Stuhl, eine Vase oder ein Gewebe, in seinem
Wesen gestört wird. Wir ahnen zwar, daß das
Ornament früher etwas ganz anderes, etwas viel
Gewichtigeres bedeutet haben muß, doch finden
wir uns schwer an den Punkt zurück, wo das
Ornament nicht bloße dekorative Zutat war.

Bei Versuchen, die an der Heidelberger
Klinik mit einem Rauschgift „Meskalin" ge-

macht wurden, erlebten die Versuchspersonen
äußerst prunkvolle, halluzinatorische Visionen.
DieseVisionen waren vielfach von ausgesprochen
ornamentalerPrägung, und dieVersuchspersonen
genossen diese Ornamentenfülle — die ihnen
bald als mexikanisch, bald als chinesisch, bald als
maurisch oder überhaupt „orientalisch" erschien
— mit Lustgefühlen ganz eigener Art. Aber
auch die Ornamente, die sie r e a 1 vor sich hatten,
etwa auf der Tischdecke oder an der Tapete
oder auf dem Teppich, wirkten mit ungemein
starker Anziehungskraft auf sie ein. Sie „ver-
standen" sie plötzlich. Sie gewannen plötzlich
einen inneren Zugang zu dem, was im Ornament
zu ihnen sprach. Sie konnten die Linien, die
Farben, die rhythmischen Formen in ihrer sym-
bolischen Bedeutung lesen; sie erkannten einen
verborgenen, tiefen Sinn.

In den Selbstschilderungen der Versuchs-
personen stoßen wir immer wieder auf den
einen Punkt, daß sie im Ornament sich selbst
antreffen, daß sie im Ornament sich selbst er-
leben. Sie sehen maurische Architektur, sie
sehen gotische Netzgewölbe, einige sogar hoch-
moderne Eisen- und Eisenbetonkonstruktionen,
wie sie bei Brücken, Kranen, Funktürmen usw.

XXXIII. August 1930. 8
 
Annotationen