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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

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Michel, Wilhelm: Das Geheimnis des Ornaments
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https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0338

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vorkommen. Und immer leben sie sich mit
lustvoller Leichtigkeit in diese Gebilde ein,
empfinden sie mit dem ganzen Körper, wis-
sen sich ihnen mit einer unerhörten Innig-
keit verwandt, vertraut und sogar identisch.
Sie finden sich in ihnen wieder.

Aber nicht nur sich, sondern zugleich
auch die Welt; den ganzen Kosmos mit
allen seinen Wesen, Kräften und Gewalten.
Alles empfinden sie als hineinverflochten in
die Ornamentenfülle, die durch ihre Vision
geht, in das „Gitterwerk", in die rhythmi-
schen, geordneten, kristallischen Gefüge, die
sie alle ohne Ausnahme erblicken. Selbst-
e rieben und Welterleben, beides trifft
im Ornamenterleben des Giftberausch-
ten zusammen — darum hat er zum Orna-
ment diese Seins beziehung, keine in un-
serem Sinne „ästhetische" Beziehung.

Wir werden freilich einwerfen müssen:
wieso kann es denn möglich sein, nicht nur
sich selbst, sondern auch „die ganze Welt"
im Ornament zu fühlen, zu erblicken? Die
Antwort auf diesen Einwand ist es nun, die
das Geheimnis des Ornaments erst völlig
enthüllt. Denn die Antwort lautet: der Be-
rauschte ist unter dem Einfluß des Mittels in

das große, ekstatische Zusammenhangs-
erlebnis eingetreten, in die uferlose Be-
ziehungsfülle, in der es keine scharfe Tren-
nung von Innen und Außen, Nah und Fern,
Menschlichem und Kosmischem mehr gibt.
Das Ich, die Vernunft, die Begrifflichkeit,
alles was Grenzen setzt und Unter-
scheidungen begründet, sind in ihm auf-
gelöst, und nur ein geschlossener Ball von
allseits verbundenem, grenzenlos ineinander
verflochtenem Leben ist geblieben.

Dieser Zustand begegnet uns noch in er-
kennbarer Ausbildung beim Kind und beim
Künstler, er ist in unseren Träumen ge-
geben, er tritt bei gewissen geistigen
Affektionen und bei Ekstasen hervor.
Insbesondere liegt er auch beim primiti-
ven und beim altertümlichen Men-
schen vor — und von hier aus wird es
erklärbar, warum das Ornament bei Völkern
von primitiver oder archaischer Art eine
so bedeutende Rolle gespielt hat und noch
spielt. Das Zusammenhangs-Erlebnis, das
erste durchgreifende geistige Erlebnis des
eben erwachten Menschen — das ist zu-
gleich der Quellpunkt des Ornaments. Nur
von hier aus kann es verstanden und auf
echte Weise hervorgebracht werden, w. m.

professor josef hillerbrand. »druckstoff«
 
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