DIE FRAGE NACH DER IM WERK
SICH ÄUSSERNDEN LEBENSKRAFT
Kunst und Nicht-Kunst hieß bis vor
kurzem die einzige Entgegenset-
zung, die für die Betrachtung des künst-
lerischen Schaffens Geltung hatte. Was
„Kunst" war, galt uneingeschränkt als
gut; was in seiner künstlerischen Fun-
dierung schwach war, was „Publikums-
Kunst" oder „unkünstlerische Kunst"
war, hatte der Ablehnung zu verfallen.
Wert oder Unwert des Kunstwerkes ent-
schied sich also streng auf der ästhe-
tischen Ebene, auf der Ebene des Wie,
der Darstellungsweise; die Frage nach
dem Inhalt — die keineswegs bloß eine
Frage nach dem Motiv, sondern nament-
lich eine Frage nach der im Werke sich
äußernden Lebenskraft ist — blieb
strikte außer Betracht.
In dieser Hinsicht hat sich ein Wan-
del vollzogen: Wir wissen heute, daß
in der Kunst Lebenszweifel, Lebens-
schwäche, sogar Lebenshaß wirken kann
— und wissen, daß in ihr Lebensfreude,
Lebenserhöhung, Lebensbegünstigung
das Wort haben können. Wir sind für
diejenige Seite der Kunst, mit der sie
als ein wichtiger Faktor in unserer Le-
bensökonomie wirksam wird, sehr
viel klarsichtiger geworden. Aus dem
einfachen Grunde, weil wir auf das Ge-
sundsein einen betonten, höheren Wert
legen. Es wäre ja auch in der Tat sonder-
bar, wenn eine Menschheit, die mit
einem wahren Fanatismus der körper-
lichen und psychischen Kräftigung nach-
lebt, an der Tatsache vorüberginge, daß
„Kunst" die Lebensenergien ebensogut
stärken als schwächen kann, —■ je nach-
dem sie aus einer vertrauensvollen, na-
turhaft-gesunden oder aus einer pessi-
mistisch gestimmten, erweichten Seele
kommt. Jeder wird freilich zu entschei-
den haben, welche Art von Kunstwerken
sein Leben fördert und welche nicht. Das
wird von Fall zu Fall sehr verschieden
sein. Aber als Tatsache bleibt bestehen,
daß die Frage nach dem Wie nicht mehr
das einzige Kriterium in Kunstdingen ist;
und zu dieser Tatsache wird sich jeder
bekennen müssen, der die Antriebe und
die Denkweise unserer Zeit versteht. Sie
liegt auf der Linie jenes Strebens, das der
Kunst eine neue Realbedeutung inner-
halb unseres Daseins zu geben sucht, w. m.
professor josef hillerbrand— münchen. »bedruckter v
SICH ÄUSSERNDEN LEBENSKRAFT
Kunst und Nicht-Kunst hieß bis vor
kurzem die einzige Entgegenset-
zung, die für die Betrachtung des künst-
lerischen Schaffens Geltung hatte. Was
„Kunst" war, galt uneingeschränkt als
gut; was in seiner künstlerischen Fun-
dierung schwach war, was „Publikums-
Kunst" oder „unkünstlerische Kunst"
war, hatte der Ablehnung zu verfallen.
Wert oder Unwert des Kunstwerkes ent-
schied sich also streng auf der ästhe-
tischen Ebene, auf der Ebene des Wie,
der Darstellungsweise; die Frage nach
dem Inhalt — die keineswegs bloß eine
Frage nach dem Motiv, sondern nament-
lich eine Frage nach der im Werke sich
äußernden Lebenskraft ist — blieb
strikte außer Betracht.
In dieser Hinsicht hat sich ein Wan-
del vollzogen: Wir wissen heute, daß
in der Kunst Lebenszweifel, Lebens-
schwäche, sogar Lebenshaß wirken kann
— und wissen, daß in ihr Lebensfreude,
Lebenserhöhung, Lebensbegünstigung
das Wort haben können. Wir sind für
diejenige Seite der Kunst, mit der sie
als ein wichtiger Faktor in unserer Le-
bensökonomie wirksam wird, sehr
viel klarsichtiger geworden. Aus dem
einfachen Grunde, weil wir auf das Ge-
sundsein einen betonten, höheren Wert
legen. Es wäre ja auch in der Tat sonder-
bar, wenn eine Menschheit, die mit
einem wahren Fanatismus der körper-
lichen und psychischen Kräftigung nach-
lebt, an der Tatsache vorüberginge, daß
„Kunst" die Lebensenergien ebensogut
stärken als schwächen kann, —■ je nach-
dem sie aus einer vertrauensvollen, na-
turhaft-gesunden oder aus einer pessi-
mistisch gestimmten, erweichten Seele
kommt. Jeder wird freilich zu entschei-
den haben, welche Art von Kunstwerken
sein Leben fördert und welche nicht. Das
wird von Fall zu Fall sehr verschieden
sein. Aber als Tatsache bleibt bestehen,
daß die Frage nach dem Wie nicht mehr
das einzige Kriterium in Kunstdingen ist;
und zu dieser Tatsache wird sich jeder
bekennen müssen, der die Antriebe und
die Denkweise unserer Zeit versteht. Sie
liegt auf der Linie jenes Strebens, das der
Kunst eine neue Realbedeutung inner-
halb unseres Daseins zu geben sucht, w. m.
professor josef hillerbrand— münchen. »bedruckter v