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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 66.1930

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Michel, Wilhelm: Kunst und Menschentum
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https://doi.org/10.11588/diglit.9256#0365

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KUNST UND MENSCHENTUM

Die Kunst, o Mensch, hast du allein", heißt
es in Schillers Gedicht „Die Künstler".
Es geht voraus: „Im Fleiß kann dich die Biene
meistern — In der Geschicklichkeit ein Wurm
dein Lehrer sein." Nur eben die Kunst ist dem
Menschen allein vorbehalten.

Was liegt in dieser Behauptung? Zweierlei,
wie mir scheint. Erstens, daß Kunst nur beim
Menschen vorkommt, zweitens, daß die Kunst
etwas ist, womit sich der Mensch erst als
„Mensch" erweist. Sie ist nicht ein beliebiger
Vorzug, etwa wie der aufrechte Gang. Sondern
die Kunst steht in Zusammenhang mit dem
Einzigartigen, mit dem spezifisch Menschlichen
im Menschen; sie steht in Zusammenhang mit
dem, was den Menschen grundsätzlich und
radikal vom Tier unterscheidet.

Wieso stellt die Kunst dieses spezifisch
Menschliche dar? — Sie tut es dadurch, daß
in ihr allein die Welt und die Dinge zu Bildern
werden, daß ihr die Tätigkeit eines vorstellen-
den und darstellenden Bewußtseins zugrunde
liegt. Der Mensch ist das einzige lebende
Wesen, in dem sich die Dinge spiegeln können.

Der Spiegel im Menschen ist das Bewußtsein,
der Zurückwurf ist die Kunst. Das Tier erfüllt
sein Leben in lauter unmittelbaren, konkreten
Begegnungen mit der Umwelt. Was in seinen
Lebensraum fällt, das beachtet und nutzt es,
das braucht und verbraucht es gleichsam ohne
Rest. Nur beim Menschen, da er den sonder-
baren Apparat des Bewußtseins hat, besteht
die Möglichkeit, daß sich das Bild des Dinges
vom Ding ablöst und in der künstlerischen
Darstellung verselbständigt. Während der
Mensch im Leiblichen und selbst im Seelischen
tausendfach mit dem Tierreich verbunden ist,
steht er mit dieser Fähigkeit, Ding und Ding-
bild scharf zu trennen, völlig allein da. Und
eben diese Fähigkeit ist es, die zugleich sein
Menschenwesen begründet. Mögen wir tau-
sendmal sagen, diese Fähigkeit sei der große
„Bruch" im Leben der Erde: unzweifelhaft
bleibt bestehen, daß sie die grundlegende Tat-
sache des menschlichen Seins ist. Und da auf
ihr zugleich die Möglichkeit aller Kunst beruht,
wird die Kunst zu einem Zeugen, Bürgen und
Begleiter alles Menschentums. Wilhelm michel.

XXXm. September 1930. 3
 
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