Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 68.1931

DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Kunst in Not
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.9248#0030

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Kunst in Not

Nenne man den Zusammenhang, in dem die
Funktion Kunst steht, einen biologischen, nenne
man ihn einen arbeitsteiligen Zusammenhang:
es muß diese Funktion ins Ganze der Volks-
kultur hineingelebt werden. Wer den Blick aufs
Ganze hat, der muß die Funktion Kunst mit-
wollen und mitlieben, der muß ihre Pflege be-
treiben, mindestens als Bekenntnis zu der gei-
stigen Menschengestalt, in der wir stehen, auf
Gedeih und Verderb, und die unzweideutig das
eine von uns fordert, daß das Leben unaus-
gesetzt geistig verarbeitet werde, daß Leben
und Geist beieinander bleiben in derjenigen
Innigkeit der Gesellung, die die Kunst
durch die Jahrtausende hin veranschaulicht.

Man hört heute manchmal sagen: Ja, Kunst
ist schön und gut — Rembrandt, Michelangelo,
Grünewald, Goethe, Beethoven, das sind die
Träger der großen Kunstenergien; also die
Spitzenleistungen, die echte, die hohe Kunst.
Aber was sollen die hunderttausend kleinen
und mittleren Begabungen, die nicht viel mehr
als den guten Willen aufzuweisen haben? Fort
m it ihnen! Sie hab en mit wirklicher Kunst nichts
zu tun. — Man kann solche Reden heute von
ernsthaften Menschen hören, sogar von solchen,
die zur Kunst zweifellos eine echte Beziehung
haben — und man muß sich nur wundern über
die geradezu verstiegene Abstraktheit
des Denkens, die sich da ausspricht. Als ob
die Höchstleistungen zu haben wären, ohne
daß man das ganze Feld, auf dem Kunst
wächst, pflegt und betreut! Als ob irgendwo
in der Welt das Große gezüchtet oder ermög-
licht werden könnte, wenn man nicht — bei
aller Abwehr des Dilettantismus, die selbst-
verständlich ist — an seinem Ort auch das
Durchschnittliche und bloß Tüchtige zuläßt!
Ich lasse mich nicht davon überzeugen, daß es
diejenigen, die den Meistern überschwengliche
Reverenz erweisen und zugleich bittere Schärfe
gegen die mittleren Talentstufen zeigen, mit der
Kunst wahrhaft gut meinen. Die großen Ereig-
nisse sind in der Kunst so selten wie in der
Geschichte. Nur die Höchstleistungen gelten
lassen, heißt die Kunst praktisch aus unserem
Leben streichen. Daß die Maßstäbe blank und
klar gehalten werden, ist zu loben. Aber das
ständige Paradieren mit allerletzten An-
sprüchen, das den produktionstechnischen Zu-
sammenhang des Großen mit dem Durchschnitt-
lichen schnöde verleugnet, steht mir im Verdacht,
nur eine Verkleidung jener Kunstfeindschaft zu
sein, von der die Rede war.
Wir haben ja leicht davon reden, daß man

Theater, bildende Kunst und Dichtung dem
Verderben, das auf sie lauert, doch nur ruhig
preisgeben solle; es werde schon nicht so
schlimm werden. Ganz abgesehen von dem, was
dabei an „Apparatur" zugrunde gehen müßte:
wir haben von dem, was bei einem solchen Mora-
torium der Kunst „wird", gar keine halbwegs
begründete Vorstellung, weil wir die Erfahrung
eines der Kunst entledigten Daseins noch nicht
gemacht haben. Wir haben ja nie ein Dasein
gelebt, dem die Kunst nicht ihre sinnfälligen
und ihre geheimeren Dienste erwiesen hätte.
Aber man lasse nur einmal das Verderben wal-
ten, man gebe nur einmal jenen Kräften das
Feld frei, die sich sofort über die Geister her-
stürzen werden, wenn die Kunst zurückweicht
— so wird man sehen, wie nahe in Wirklich-
keit immer die Verwilderung vor den Toren der
sogenannten Kultur lauert. Wir bilden uns nur
zu leicht ein, daß Kultur ein fester, solider
Sachbestand sei, der nur sehr schwer zu er-
schüttern ist. Nein, was wir Kultur nennen, ist
ein angespanntes, unablässiges Tun Aller, eine
Gemeinschaftsleistung, ein ständiges Sich-
Regen und Wirke n — und wo in der Front
dieser gemeinsamen Tätigkeit eine taube, tote
Stelle ist, da dringt sofort das Wilde, das Bös-
artige und Barbarische vor.

Ja, wir brauchen gar nicht an ein künftig zu
machendes Experiment zu denken. Schon heute
sehen wir, eine Schwächung der geistigen Po-
sition der Kunst ist eingetreten. Undsogleich
bemerken wir, daß — wenn nicht infolge dieser
Schwächung, so doch sicherlich im Zusammen-
hang mit ihr — eine Verdunkelung des ganzen
Lebens eingetreten ist, die sich auch da be-
merkbar macht, wo die wirtschaftliche Not
nicht hinreicht. Käme die Kunst unter uns
jemals ernstlich und auf die Dauer ins Ver-
stummen, so wäre es wie das Erlöschen der
Sonne. Nicht weil dann diese sonderbaren
Spezialisten nicht mehr da wären, die Lein-
wände mit Farben bedecken, Steine zu Ge-
stalten formen, dichten, fabulieren und Harfen
schlagen, sondern weil dann die uns bekannte
Menschenform, diese bestimmte Zueinander-
ordnung von geistigen und vitalen Kräften,
nicht mehr da wäre,

Möge man eine kommende kunstfremde Zeit
als möglich ins Auge fassen — aber möge man
sich dann auch klar darüber sein, daß sie
gleichbedeutend wäre mit dem Untergang des
Menschentypus, in den wir hineingeboren sind
und auf den alles, was wir heute reden, tun
und denken, bezogen ist.....Wilhelm michel.
 
Annotationen