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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 68.1931

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Schürer, Oskar: Verlorene Mystik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9248#0125

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BIMINI WERKSTATTEN—WIEN »TOILETTEGARNITUR« GLAS

VERLORENE MYSTIK

Wie oft hat man in Erörterungen über
heutige Kunst dem leidigen Einwand zu
begegnen: „Ja, aber die Mystik ist dieser Kunst
verloren gegangen. Mit Sachlichkeit allein ist
noch nie eine Kunst gediehen. Mehr Mystik,
wenn ich bitten darf, ihr Herrn Künstler!" Was
soll man erwidern? Kommt doch dieser Ein-
wand meist von solchen, die nur mit dem In-
tellekt herangehen ans Kunstwerk, ja grade von
ausgesprochenen Rationalisten, die sich über-
haupt noch nie klar gemacht haben, wie fern sie
aller eigentlichen Mystik stehen. Und wie fern
alle eigentliche Mystik der wahren Kunst steht.
Natürlich kommen die Herrn Skeptiker sofort
mit dem gotischen Dom angerückt und mit
seinem unendlichen Gehalt an formgewordener
Mystik. Wie soll man nun in den wenigen
Minuten der Diskussion die beiden fundamen-
talen Fehler nachweisen, die in solcher Argu-
mentation liegen. Erstens einmal den durch un-
genügende Kenntnis bedingten Irrtum, als ob
Gotik primär auf mystischen Gedankengängen
beruhe. Als Auswirkungen der Mystik bis zur

anschaulichen Sphäre des Bewußtseins vor-
drangen, hatte die Gotik ihren grundlegenden
Formungsprozeß schon abgeschlossen. Die Er-
weichungen und Komplizierungen der späten
Gotik haben mit der eigentlichen, der klassischen,
die auf der Rationalität der Funktionen beruht,
nichts, aber auch gar nichts zu tun. Also die
Mystik der Spätgotik! — wird der Gegner seiner
eigenen Zeit, d. L, seiner zeitgenössischen Kunst
dann beharren. Ach nein: auch in der Spät-
gotik ist nicht Mystik Form geworden. Einfach
darum, weil Mystik nie Form werden kann.
Ganz gewiß nie Kunstform. Weil Mystik das
geistige Gegenprinzip aller Kunst, aller Gestalt-
werdung ist. Weil Mystik alles Sein und Wer-
den zurückrollt in den gestaltlosen Nu. Weil
für die echte Mystik alle Kunst Sünde wider
den einen, in die Tragik des Gestaltlosen zu-
rücksuchenden Geist ist. Weil Kunst und Mystik
die fundamentalsten Gegensätze sind, die je in
der Geisteshaltung einer Zeit aufeinanderprallen
können. Aber davon dürfen wir hier nicht
weiter reden. Die Fragen sind zu schwierig für

XXXIY. Mai 1931. 5»
 
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