Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 3): Denkmäler des Mittelalters, sechste Abtheilung — 1852

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3503#0063
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die St. Stephans - Kirche in Wien.

Dass die im Jahre 1519 erbaute Thurmspitze sich wiederum gebogen, kann nicht befremden, wenn man ihre
Construction näher betrachtet. Eine 63 Fuss lange eiserne Helmstange, unten 4 Zoll, oben 3 Zoll dick
wird nicht in einer vertikalen Lage verbleiben, sie wird bei dieser im Verhältniss zu ihrer Länge geringen
Dicke nothwendig grossen Schwankungen unterworfen sein. Diese Schwankungen mussten auf die dünnen
steinernen Wandungen der Thurmspitze um so gefährlicher wirken, als der oberste Theil derselben in einer
Höhe von ohngefähr 38 Fuss nicht hohl sondern massiv war, und dies verhältnissmässig grössere Gewicht
der Spitze bei einer Seitenbewegung derselben um so nachtheiliger auf die Standfestigkeit der Thurmpyramide
einwirkte, und dies um so mehr, da dieselbe aus der lothrechten Stellung gewichen war. Jedoch geschah

ö ö'

bis zum Jahre 1838 nichts zur Abhülfe dieser Noth. Die Kirche blieb überhaupt seit 1579 mit Ausnahme
einiger unbedeutenden Anbaue in unveränderter Gestalt. Doch wurde sie von mehreren ihren Anblick
störenden Umbauungen befreit. Schon 1700 war der Heiligthumstuhl weggeschaift worden, der seit 1483
zur jährlichen Ausstellung der heiligen Reliquien in der Kirchweihwoche gedient hatte, und 1792 wurde
bei der Rückkehr des Kaiser Franz von seiner Krönung zum römischen Kaiser der Platz durch Hinweg-
räumung der kleinen Wohnungen und Gewölbe, welche die vordere Seite des Domes verhüllten, gesäubert.

Im Jahre 1809 erlitt die Kirche durch die französischen Truppen manche Beschädigungen, die das Jahr
darauf durch den Hofarchitekten Aman wieder reparirt wurden. Indess geschah für die Thurmpyramide nichts
Durchgreifendes; die bis 2 Zoll breiten Risse, die dieselbe erhalten hatte, wurden mit Steinkitt verkittet.

Erst das Jahr 1838 führte durchgreifendere Beschlüsse für die wankende Thurmpyramide herbei auf
die Anzeige des Kirchenmeisteramtes, dass einzelne Steinablösungen stattgefunden hätten. Es wurde eine
Baucommission zur Besichtigung des Schadens und zur Abhülfe desselben niedergesetzt, und noch im
Herbste des Jahres 1838 wurde die Einrüstung des Thurmes von der obersten Gallerie aufwärts begonnen
und im Mai des nächsten Jahres von den Zimmermeistern Jakob Fellner und Anton RueiF vollendet. '•')
Prof. Roesner unternahm und leitete eine genaue Aufnahme der Thurmspitze, die da ergab, dass die Ab-
weichung des oberen Theils derselben von der senkrechten Axe in der letzten Höhe von 63 Fuss 3 Fuss 4 Zoll
gegen Nordost betrug. Die gebrochenen Bausteine fand man aber zum Theil so mürbe, dass man sie mit
der Hand zerbröckeln konnte.

Unter diesen Umständen trug die ernannte Baucommission auf die Abtragung der obersten Thurmspize
durch 63 Fuss Höhe vom Gipfel an. Dieselbe wurde mit aller Vorsicht im August 1839 begonnen und im
Frühjahr 1840 beendet. Der Wiederbau derselben geschah nicht in der früheren Weise sondern mittelst
eines schmiedeisernen Gerippes nach dem Entwürfe des kaiserlichen Professors und Hofbauraths Sprenger
und unter der Leitung des k. k. Architekten Baumgartner. Ausserdem wurden die schadhaftesten Steine
aus dem unteren Ende der Thurmpyramide durch neue ausgewechselt und überdies erhielt dasselbe eine
eiserne Armirung. Der oberste Gipfel der Thurmpyramide indess mit der ihn krönenden Kreuzblume wurde
aus getriebenem Kupfer über einem eisernen Gerippe hergestellt. Am 20. October 1842 wurde die glück-
liche Vollendung des Baues durch die Weihe des aufzusetzenden Kreuzes gefeiert.

Der neue Stephansthurm ist um 3 Fuss 4 Zoll höher als der alte, da Adler und Kreuz früher 7 Fuss
1 Zoll Höhe hatten, gegenwärtig aber 10 Fuss 5 Zoll hoch sind. Die ganze Höhe desselben beträgt mit
Einschluss von Adler und Kreuz 72 Klafter 3 Fuss 6| Zoll oder 435J Wiener Fuss.

Die Kirche ist in der Form des lateinischen Kreuzes durchaus von Ouadersteinen erbauet, die mit
eisernen Klammern verbunden sind. Ihre ganze Länge von der äusseren Mauer der Vorlage des sogenannten
Riesenthores bis zu jener, welche den hohen Chor umfasst, beträgt 333 Wiener Fuss **) oder nicht volle
335 Rheinl. Fuss, ihre grösste Breite, nämlich von einem bis zum andern Eingange unter den Thürmen im
Kreuze, aber 222 Wiener Fuss; die äussere Mauer ist 79 Wiener Fuss hoch. Kühn erheben sich an der-
selben die mächtigen Strebepfeiler, zwischen welchen 31 hohe bis an das Gewölbe reichende zum Theil
gemalte Fenster prangen."''"-) Ueber sie steigen die beiden Riesendächer empor, deren Zimmerwerk über
2900 Hauptstämme erforderte. Das vordere, das von Herzog Rudolph IV herrührt, langt von dem Haupt-
thore bis zu den beiden grossen Thürmen und ist 105^ Wiener Fuss hoch; das andere vom Kaiser Friedrich III

*) Ueber dieses Gerüst so wie über den Neubau der Spitze des Stephansthurmes siehe Prof. Trost's Aufsatz in dem achten
Jahrgange (1843) der Wiener Allgemeinen Bauzeitung, Seite 5 —18.
**) Sämmtliche Maasse sind nach K. Rupp's und Chr. Wilder's Aufnahmen genommen.
***) Ferdinand I verehrte der Kirche im Jahre 1564 fünf Fuhren gemalter Glastafeln, die man damals geschmelztes Glas nannte.
Im Jahre 1646 wurden diese grossentheils und im Jahre 1763 fast gänzlich durch ungemalte Glastafeln vertauscht, um der
Kirche mehr Licht zu verschaffen. Jedes grosse Fenster enthält 192 Tafeln, die in 48 eisernen Rahmen eingefügt sind.

©t <&tty§anit\vü)t in £ßiett. 3.
 
Annotationen