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Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Editor]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 3): Denkmäler des Mittelalters, sechste Abtheilung — 1852

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https://doi.org/10.11588/diglit.3503#0191
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Der Altar fler Kirche Or-San-Michele in Florenz.

In einer der vielen schönen Kirchen von Florenz, die der grosse Architect der Republik Arnolfo da
Cambio gebaut hat, in Or-San-Michele, die zwischen dem Dom und dem Pallazzo vecchio liegt, und ihren
Namen Or davon erhalten hat, weil sie ehemals ein Getreidemagazin, horreum, und eine Kornbörse gewesen,
bewundern Künstler und Liebhaber mittelalterlicher Kunst ein Meisterstück der Architectur und Sculptur,
das man dem grossen und fruchtbaren Talent des Andrea di Cione verdankt, den Vasari, man weiss nicht
aus welchem Grunde Orcagna nennt.

Die Brüderschaft von Or-San-Michele hatte beschlossen aus den gesammelten vielen frommen Opfer-
gaben, die man bei der grossen Sterblichkeit in Florenz im Jahre 1348 der Jungfrau dargebracht hatte,
einen prächtigen Altar erbauen zu lassen. Der berühmte fiorentinische Künstler Andrea di Cione trug bei
einer für diesen Zweck ausgeschriebenen Concurrenz den Sieg über seine Mitbewerber davon, und das
Werk seiner glänzenden Phantasie und seines geschickten Meisseis ist jener Altar mit Ciborium darüber,
der sich in unserem Werke auf drei Bildtafeln dargestellt findet. Er ist aus weissem Marmor der schönsten
Art gearbeitet, reich mit Statuen und mit Mosaiken geschmückt, welche letztere aus Würfeln farbigen
Marmors und gefärbten Glases hergestellt sind.

Andreas war erst dreissig Jahr alt, als er den Altar von San-Michele vollendet hatte, er war im
Jahre 1329 geboren und sein Werk trägt die Jahreszahl 1359. Sechszehn Jahre später erbaute er noch
am Platze der Signorie die Loge dei Lanzi, bei der er wieder den Spitzbogen mit dem Rundbogen ver-
tauschte und überhaupt dem damaligen Architecturstyle wieder mehr Reminiscenzen an römische Bauten
beimischte, weshalb denn auch dieser Tabernakel sich im Styl schon mehr der spätem Renaissance annähert.

Obwohl nun die vier Hauptbogen unseres Altartabernakels Halbkreise sind, so ist doch derselbe ganz
im Character des florentinischen Spitzbogenstyls. Dem Ganzen ist der Stempel der Grossartigkeit., der
Würde und ernster Pracht aufgedrückt, den Andreas allen seinen Architectur-, Malerei- und Sculpturwerken
zu geben wusste. Aber der in die Höhe strebende Spitzbogenstyl unseres Nordens zeigt sich hier wie
fast überall in Italien mit der Horizontale der Antike vermählt, die Vertikale wird hier so zu sagen aus
horizontalen Lagen auferbaut. Der spitze Giebel, scheint er nicht mit dem horizontalen Friese zu dis-
harmoniren, und die octogone Kuppel mit der Statue des heiligen Michael auf ihrem Scheitel, so reich
sie auch ist, scheint sie wohl zu dem ganzen übrigen Werke gut zu passen V Doch wir wollen mit dem
Künstler nicht rechten, dass er nicht statt der Kuppel die luftigere durchbrochene Pyramide unseres
nordischen Spitzbogenstyls angewendet, dass er nicht den Giebel unmittelbar über den Bogen gestellt hat;
ist er doch ein Italiener und kein Deutscher oder Franzose, und hat er doch auch in einer italienischen
Version des französischen Spitzbogenstyls ein schönes und ächtkünstlerisches Werk hingestellt. Interessant
ist es aber zu sehen, wie der Geist der Antike auch selbst bei solchen italienischen Kunstwerken durch-
schimmert, die in dem eine Zeit lang von den Italienern adoptirten nordischen Spitzbogenstyle ausgeführt sind.

Andreas behielt sich mit seinem Bruder bei der Ausführung des Tabernakels alles Figürliche vor,
die übrigen Sculpturarbeiten theilte er Meistern aus verschiedenen Ländern Italiens zu. Um die einzelnen
Theile seines Werkes zu verbinden, brauchte er weder Mörtel noch Kitt, sondern kupferne Klammern, die
aber dem Auge des Beschauers unsichtbar bleiben und den Tabernakel aus einem Block gebildet erscheinen
lassen. Alle, auch die kleinsten Details desselben sind mit Geschmack und Zartheit ausgeführt. Man
sieht, dass die Künstler dieser Zeit mit Liebe und Begeisterung ihre Werke schufen und vollendeten.
Unsere Bildtafeln überheben uns in eine Aufzählung der architectonischen Theile des Tabernakels einzu-
gehen, die mit scrupulöser Genauigkeit gemessen und gezeichnet sind. Wir werden uns daher nur noch
speciell mit den Sculpturen beschäftigen.

An der linken oder Nordseite zeigen sich am Unterbau des Tabernakels zwei Reliefs von acht-
eckiger Form, die erstlich die Geburt der Jungfrau Maria und zweitens ihren ersten Besuch des Tempels
darstellen. In der Mitte zwischen diesen beiden Darstellungen befindet sich eine Fides. An der auf
unseren Bildtafeln gegebenen Seite ist die Vermählung und die Verkündigung der Maria dargestellt, in
der Mitte zwischen diesen Reliefs eine Spes. Auf der rechten oder Südseite hat der Künstler die Geburt
Jesu Christi und die Anbetung der Magier, in der Mitte zwischen diesen Darstellungen eine Caritas gebildet.
Auf der vierten oder Ostseite sieht man das Opfer im Tempel zu Jerusalem und den der heiligen Familie
gegebenen Befehl zur Flucht nach Aegypten. Da dieser Tabernakelaltar der Jungfrau Maria geweiht ist,
so hat Andrea auf der Ostseite und hinter dem Bilde, das uns unsere Bildtafeln zeigen, den Tod und
die Himmelfahrt Mariens angebracht. Die Ecken des Unterbaues, die mit Strebepfeilern versehen sind,
sind mit den Büsten von Königen und Königinnen, mit männlichen und weiblichen Heiligen geschmückt.
Die gewundenen Säulen, die den oberen Theil des Tabernackels stützen, tragen zuvörderst ein Gebälk

Denkmäler der Baukunst. CXVL Lieferung.
 
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