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Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Contr.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (Heft 2): Struktive und ästhetische Stilrichtungen, Kirchliche Baukunst — Stuttgart: Bergsträsser, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.67518#0049
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3^7

502.
Gefahren
dieser
Richtung.

5°3-
Objective
und
subj ecti ve
Ideale.

5°4-
Erläuternde
Beispiele:
Mittelalterliche
Vorbilder.

die
un-

a) Idealbau der Renaissance im Gegensatz zum gothischen Ideal.
Nicht alle Völker und alle Culturepochen haben in gleichem Masse das Ver-
ständniss für die Richtung des objectiven Idealbaues gehabt. Der gothische
Kathedralenstil ist die höchste denkbare Entwickelung des subjectiven Ideals und
hat doch den Idealbau so gut wie nicht gekannt.
Der Idealbau beruht auf der Ueberzeugung der Völker mit klassischer Kunst-
mission, dass es eine Ideal-Architektur giebt, die als Kunst total unabhängig ist von
den, so zu sagen, prosaischen, gemeinen Anwendungen auf die menschlichen Bedürf-
nisse. So weit es möglich ist, eine Vorahnung von dieser Ideal-Architektur zu er-
langen, kann man sagen, dass he in der Harmonie vollkommen schöner Räume
und Formen besteht, in der logischen, organischen Entwickelung dieser Räume und
ihrer geometrischen und ästhetischen Beziehungen zu einander; ferner in der Durch-
bildung ihrer Formen auf Grund ihres ästhetischen Inhaltes, ganz wie die Musik
Kunst der Töne ist und eine Reihe von Schöpfungen hervorbringen kann, die
abhängig von jedem anderen Gedanken eine eigene Schönheit besitzen.
Im Glauben an die Wirklichkeit einer solchen Ideal-Architektur sucht man die Aufgaben

Die Thatsache, dass diese Richtung in gewissen Phasen zu akademischer
Correctheit und Leblosigkeit einschläft, ist kein Grund, um am Princip und am
Werth der Idealströmung zu zweifeln.
Es ist auch nicht zu leugnen, dass diese ideale Ausfassung in architektonische Phantasterei und
Träumerei und in eine Vernachlässigung der billigen Bedürfnisse des realen Lebens, sowie der praktischen
Aufgaben des täglichen Daseins ausarten kann.
Eine Vernachlässigung dagegen der idealen Richtung hat zur Folge, dass die grossen Aufgaben der
Baukunst oft der idealen Auffassung entbehren und sie bloss als grosse oder reiche Nutzbauten erscheinen.
Ihnen fehlt der Schein , in einer über der Prosa des täglichen Bedürfnisses erhabenen Höhe entsprungen
zu sein, wo jene ideale Vollkommenheit herrscht, die allein den Charakter wahrer Monumentalität verleiht.
Diese ideale Auffassung wird stets die Seele der monumentalen Aufgaben bleiben.

des
praktischen Lebens in einer Weise aufzufassen, welche die Verwirklichung einer solchen Ideallösung theil-
weise gestattet oder möglichst nahe rückt.
Die klassische, antike und italienische Kunst steht im Dienste der Vollkommen-
heit. Die nordische denkt mehr an ihre eigenen subjectiven Empfindungen, an
Comfort und an das Sichgehenlassen der Gemüthlichkeit.
Die Richtung des Idealbaues ist nicht nur die Leuchte aller klassischen Kunst-
phasen, sondern der Grundpfeiler aller Kunst, ihr Adelsbrief und ihre Ehrenkrone.
Er ist la raifon d'etre de 1'art meine80 ]). Er ist die Quelle aller Herrlichkeiten
der italienischen Renaissance und seit vier Jahrhunderten das Ideal der französischen
Architektur in ihrer Hauptströmung, so wie heute noch dasjenige der Academie
des Beaux-Arts und der unter ihrer Oberleitung slehenden Ecole des Beaux-Arts.
Dieser Glaube rief jene Trattati hervor, die Alberti, Francesco di Giorgio, Bramante, Leonardo
da Vinci geschrieben oder begonnen hatten. Er brachte Werke hervor, wie die Bivina Proportione des
Fra Luca Paccioli, und leitete Philibert de l’Orme, als er seinen II. Band der Architektur auf Grund
gewisser in der Bibel enthaltener Elemente zu schreiben begann.
Selbst im Mittelalter, wo regelmässige Schlösser eine seltene Ausnahme waren,
findet man einige Beispiele, die als Ideal-Schlösser bezeichnet werden dürfen.
Die Schlossanlage des Vieil Harcourt zu Lillebonne bei Havre aus romanischer
Zeit zeigt eine ganz regelmässige, symmetrische Form. Die Umwallung ist kreis-
809 Diese Ausfassung ist verwandt mit der modernen Richtung, deren Motto Vart pour Vart ist, unter welchem reine
Seelen den Accorden himmlischer Harmonien nachstreben, andere aber eine Berechtigung suchen, in gewissenlosester Weise die
Neigungen des Menschen zu reizen und ihrer eigenen sündigen Phantasie die Zügel schiessen zu lassen.
 
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