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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 1.1936

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Wilde, Johannes: Der ursprüngliche Plan Michelangelos zum Jüngsten Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.6336#0019

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Schon Karl Frey ist es aufgefallen, (laß der Entwurf in der Casa Buonarroti die Lünettenfelder
noch nicht in die Komposition einbezieht.1 Entscheidender scheint uns eine zweite Tat-
sache: der Entwurf nimmt Rücksicht auf das bestehende Altarbild. Das stehende
leere Rechteck unten in der Mitte der Zeichnung kann nur den Umfang jener „tavola in muro"
Peruginos angeben. Das ist der Schlüssel zum Verständnis dieser frühen Kompositionsidee.

Es ist wohl anzunehmen, daß die Beibehaltung des Altarbildes eine Bedingung des Auf-
traggebers war, war doch die ganze Kapelle der Himmelfahrt Mariä gewidmet („ea capella
Assumptioni gloriosae Virginis dicata est" - Paris de Grassis).2 Der Künstler mußte sich
mit dieser Bedingung abfinden. Er sucht der sich ergebenden Schwierigkeiten Herr zu werden,
indem er einerseits das Rechteck als einen integrierenden Bestandteil der Flächenkomposition
behandelt und die Figurengruppen rund um dasselbe allseitig herumführt, andererseits das
wirkliche Gesims des Altars als besondere Standfläche zwischen Erde und Himmel im Bild
verwendet. An dieser Stelle ist eine Gruppe von Kämpfenden angebracht und der Engel,
der einen Teufel in die Hölle stößt, steht fest auf diesem Gesims. Auch die Figur, um die
gekämpft wird, sitzt auf der rechten Ecke des Gesimses. Hinter der Figur des kämpfenden
Engels ist noch eine stehende skizziert, die nach links zu den Erlösten hinüberblickt. (Oder
handelt es sich um ein Pentiment und war hier ursprünglich an Stelle des Kampfes um die
Seele der heilige Michael allein, wie im Camposanto zu Pisa, projektiert?) Rechts, genau ent-
lang der Rahmenleiste des Altars, stürzt eine Gestalt kopfabwärts in die Tiefe. Unten reicht
die Komposition über den unteren Rand des Altarbildes hinab und umfaßt auch den Wand-
streifen zwischen Bild und Mensa. Man sieht hier (nur noch im verblaßten Original!) zwei
kontrapostisch gelagerte Gestalten, die eine in Vorderansicht zu der Gruppe der Auferste-
henden, die andere in Rückenansicht zu der der Verdammten gehörend.

Für die Gesamtkomposition ist bestimmend, daß dem unteren Figurenkreis von betonter
Vertikalachse ein ähnlich gebildeter in der oberen Bildhälfte entspricht und daß die zwei
Kreise nicht statisch übereinander angeordnet, sondern S- bzw. 8-förmig verbunden sind.
Eine Kompositionsform, die im 16. Jahrhundert keine Fortsetzung findet und erst vom
17. (Rubens !) wieder aufgenommen wird.

Diese Einfassung eines Altarbildes durch eine übergeordnete große Komposition hat zur
Vorgängerin die Stirnwanddekoration der Cappella Caraffa in S. Maria sopra Minerva von
Filippino Lippi.3 Nur wurde hier, wo das Ganze von einem Künstler einheitlich entworfen
wurde, sowohl der inhaltliche Zusammenhang (Verkündigung — Himmelfahrt Mariä) als
auch die formale Homogenität (gleicher Maßstab aller Figuren) gewahrt. In Michelangelos
Plan mußte auf beides von vornherein verzichtet werden. Diese doppelte Diskrepanz trieb
dann wohl zwangsläufig zur Änderung des Gesamtplanes. Der neue Plan mit seinen radikalen
Voraussetzungen, der Preisgabe des Altarbildes und der Lünettenfresken, brachte die er-
wünschte Vereinheitlichung. Interessant ist es, daß im Fresko trotzdem noch Nachwirkungen
jenes ersten Planes festzustellen sind; das könnte leicht im einzelnen gezeigt werden. Am
bezeichnendsten für diese Genese und zugleich für den zeitbedingten Gesinnungswechsel
bei Künstler und Auftraggeber ist die Tatsache, daß das neue Motiv des Höllenrachens gerade
an die Stelle des Altarbildes getreten ist: die kirchliche Glorie wurde sozusagen mit negativem
Vorzeichen versehen. (Die Stelle, wie vorher das Altarbild, erschien dem Eintretenden, solange das
Presbyterium nicht erweitert war und die Chorschranke näher zur Altarwand stand, genau von
der mittleren Öffnung der Schranke eingefaßt und dadurch noch besonders hervorgehoben.)

1 K. Frey, Die Handzeichnungen Michelangelos, III, S. 13.

2 Steinmann, a.a.O. S. 722.

3 Vgl. A. Scharf, Filippino Lippi, Taf. 45.

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