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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 1.1936

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Tietze-Conrat, Erika: Der "Stregozzo": (Ein Deutungsversuch)
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https://doi.org/10.11588/diglit.6336#0066

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E. TIETZE-CONRAT / DER „STREGOZZO"

(EIN DEUTUNGSVERSUCH)

Bartsch gibt — XIV, S. 323, 426 — die Namen des berühmten Stiches (Abb. 1): la L-arcasse
(das Gerippe) oder la Sorcellerie (die Hexerei) oder le Spectre (das Gespenst); schließlich den
italienischen: Stregozzo (die Hexerei). Carcasse geht von einem eindrucksvollen Teil der Gesamt-
komposition aus; die anderen Namen alle von der grauenvollen Alten, die auf dem Gerippe
wie auf einem Triumphwagen thront. F. A. Gruyer1 genügt diese Charakteristik nicht, er zählt
die Komposition unter jene Raffaels, deren Sinn am schwierigsten gedeutet werden kann. Wohin
man blickt —Totensymbole! Was wollen sie ausdrücken ? Niemals ist es klar gesagt worden. Viel-
leicht könnte dieser „Tod" die „Malaria" personifizieren? Hatten doch die alten Römer auch
der „Febris" drei Tempel in der Stadt errichtet. Vielleicht lebte in diesem erschreckenden
Bilde eine alte Sage aus den vom Fieber verödeten toskanischen Sümpfen fort? Durch hohes
Schilfrohr schleift der Karren, Wildgänse flattern auf. . .

Also nicht Hexe, sondern Personifikation. Aber doch nahe von Hexe. Abraham a Santa
Clara nennt unter denen, die die Pest heraufbeschwören, Juden, Totengräber und Hexen.

Auch Herbert Hirt2 scheint diese Personifikation für möglich zu halten: „Vielleicht wurden
dieselben Gedankengänge weitergesponnen, wie in der ziemlich zu gleicher Zeit entstandenen
,Pest in Phrygien' . . . Zu antik-mythologischen Gedanken an die Stymphaliden, Baccha-
nalien, Saturnalien haben sich mittelalterliche Vorstellungen von Hexen und Pferdefuß,
vielleicht auch Gedanken an den Triumph des Todes gesellt . . ." Hier ist der Weg gewiesen,
doch wurde er, soweit ich die Literatur überblicke, nicht weiter verfolgt und Mary Pittaluga3
faßt zusammen: Infiniti e vani tentativi furono fatti, per spiegare il significato del soggetto.

Es springt in die Augen: die Hexe — bleiben wir bei dieser Bezeichnung, zu der das damp-
fende Gefäß, Gerippe, Knochen, Bock und Düsterkeit gut passen und sich an gewohnte Vor-
stellungen anschließen (auch Wildgänse4 sind Hexenvögel!) — und ihre Begleiter, diese schönen
heroischen Gestalten, der reitende Knabe, die stürmenden Jünglinge — das reimt sich nicht.
Aber versuchen wir es, mit den Nackten, den Weitausschreitenden zu beginnen, und nehmen
wir den Zug, breit entwickelt wie ein Fries an der Wand, und die Frau im klaren Profil hoch
oben, so ist sie nicht Hexe, sondern Göttin. Ich habe vor Jahren als ihr formales Urbild den
antiken Typ einer trunkenen Alten bezeichnet, von der noch am Ende des 18. Jahrhunderts
sich beide erhaltenen Exemplare in Rom befanden/ Göttin und Hexe zugleich; Hekate?

Hekate mit ihren vielen Namen — Gorgo, Baubo, Gello, Empusa u. a. m. —, die chthonische
Göttin, „sank als Spukgeist allmählich zur Hexenmutter herab"/' Sie ist ein Nachtgespenst,
in ihrem Gefolge sind die Seelen der vorzeitig oder gewaltsam Gestorbenen. Zu jenen — den
awpot — gehören die Neugeborenen, die noch keinen Namen bekommen, also nicht den neunten
oder zehnten Tag erlebt haben; die noch nicht an die Brust angelegt wurden; solche, die noch
Säuglinge waren, als sie starben; solche, die schon erwachsen waren, aber noch selbst keine

1 Raphael et L'Antiquite. 1864, II, S. 77 ff.

2 Marcanton und sein Stil. Dissertation, München 1898, S. 33.

3 L'Incisione Italiana nel Cinquecento. 1928, S. 199.

4 Jakob Grimm, Deutsche Mythologie, I. Göttingen 1844, S. 1051.

5 Zeitschrift für bildende Kunst 51, 1915/6, S. 270.

6 So schließt Jul. Lippert, Die Religionen der europäischen Kulturvölker, Berlin 1881, S. 364, seine Charak-
teristik der Göttin. Über Hekate und ihren Schwärm haben ausführlich gehandelt: Erwin Rohde, Psyche, II,
(1910), S. 411 f.; Franz Cumont, After Life in Roman Paganism, 1922, V. Kap.; Jos, Dölger, Antike und
Christentum, II, 1930, S. 32.

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