Lüneburg
aber zu Tournai neigen. M. E. handelt es sich um die Arbeit eines in Lüneburg eingewan-
derten Nordfranzosen, der naturgemäß in der ihm liegenden Technik den ihm in der
Zeichnung ungewohnten Teppich ausführte und mancherlei Konzession machen mußte —
Form der die Szenen abtrennenden Säulen, Troddelbehang am unteren Ende, deutsche Le-
genden usw. Es ist schwer einzusehen, weshalb Lüneburg, eine der künstlerisch bedeutend-
sten Städte des Nordens, im endenden 16. Säkulum, Aufträge von so ausgesprochener
Eigenart nach einer in Deutschland kaum bekannten nordfranzösischen Manufaktur über-
mittelt haben sollte, wenn es eigene Wirkereiateliers besaß und infolge seiner Wohlhaben-
heit um Nachschub aus dem Westen nie verlegen zu sein brauchte.
Nicht anders ist m. E. die Sachlage bei dem hochrechteckigen Behang mit der Heilung
des Blinden von Bethsaida und den Wappen der Lüneburger Geschlechter Witzendorff und
Stöteroggen39), einer Wirkerei aus dem Beginn der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts
(Abb. 81, H. 4,10 m, L. 3,65 m). Die Besteller waren Hieronymus I. von Witzendorff (geb.
5. Juli 1493, 1532 Bürgermeister, gest. 6. Juni 1566) und seine Gattin Anna von Stöteroggen,
Tochter des Hartouicus v. St. (geb. 20. Mai 1494, verh. 1513, verst. 8. August 1571). Der
Entwurf, mit den etwas plumpen italienisierenden Formen der Rahmung, geht auf einen in
Lüneburg ansässigen Maler zurück, der wahrscheinlich in der Lübecker Schule seine Lehr-
zeit durchgemacht hat. Gegenüber den biederen deutschen Zuschauern, die die Heilung mit
Spannung verfolgen, fällt die Gestalt des Christus stark aus dem Rahmen, die von dem
Entwerfer einem französischen Vorbild, wahrscheinlich einer Holzschnittbibel — ähnlich
wie das Tourainer Heilandleben zu La Chaise-Dieu, das mehrfach Christus in ganz ähn-
licher Auffassung bringt —, entlehnt zu sein scheint. An die Arbeiten der Tourainer Gruppe
erinnern weiterhin die reihenweise aufgestellten Blumenbüschel zu Füßen des Heilandes.
Ganz aus der Art fallen die in Ranken auslaufenden fratzenhaften Zwerge oder
Dämonen, die den inneren Rundrahmen halten, Gebilde, die einer illuminierten Hand-
schrift oder einer Stichfolge entnommen sind, deren Provenienz nach dem Wege über Kar-
tonzeichner und Wirker mit Sicherheit kaum festzustellen ist. Alles in allem läßt sich von
dem merkwürdig heterogenen Teppich kaum noch behaupten, daß er in einem französi-
schen Atelier entstanden ist. Die größere Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ein einge-
wanderter Franzose, wie so mancher aus der Heimat übergesiedelte Wirker, einen gewissen
Vorrat an Vorlagen mitbrachte, die von den deutschen Zeichnern nicht gerade sonderlich
geschickt zusammengestellt und umgearbeitet wurden. Die wild verschlungenen Spruch-
bänder, die wenig glücklich die Figuren überschneiden (links), glossieren in Lüneburger
Mundart die dargestellte Handlung40).
Die Technik weicht im übrigen von der Arbeitsweise der Touraine ab, sie zeigt das
typische Gepräge der langen Tournaiser Schraffen. Als Eigenart des Zeichners, nicht des
Wirkers, erscheinen die großen aufgerissenen Augen mit den fast kreisrunden dunklen
Pupillen.
Die gleiche Freude an der ausdrucksvollen, herben Zeichnung, an den lebhaften mit-
unter schweren Farben äußert sich in einem sehr interessanten Behang (Abb. 82 a) mit
Episoden aus der Josephsgeschichte, den V. C. Habicht in der Klosterkirche zu Medingen
feststellte und in seinem „Niedersächsischen Kunstkreis" veröffentlichte. Der Aufbau —
Hauptszene: Joseph wird in den Brunnen gesenkt, die Brüder bringen dem Vater Josephs
Gewand, darunter drei kleine, durch Pilaster getrennte Episoden: Joseph wird in den Ker-
ker geworfen, Joseph und Potyphars Weib, Joseph vor Pharao — schließt sich an den
Wismarer Streifentyp an, von dem er im übrigen in Palette und Technik abweicht. Auch
ohne die Wappen der Lüneburger Patrizier v. Töbing und Semmelbecker41), ist der Be-
hang unbedingt einer Werkstatt der alten Salzstadt zu überweisen. Die Bordüre mit den
allegorischen Frauengestalten — unten rechts Justitia, links das „alte Gesetz" — und der
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aber zu Tournai neigen. M. E. handelt es sich um die Arbeit eines in Lüneburg eingewan-
derten Nordfranzosen, der naturgemäß in der ihm liegenden Technik den ihm in der
Zeichnung ungewohnten Teppich ausführte und mancherlei Konzession machen mußte —
Form der die Szenen abtrennenden Säulen, Troddelbehang am unteren Ende, deutsche Le-
genden usw. Es ist schwer einzusehen, weshalb Lüneburg, eine der künstlerisch bedeutend-
sten Städte des Nordens, im endenden 16. Säkulum, Aufträge von so ausgesprochener
Eigenart nach einer in Deutschland kaum bekannten nordfranzösischen Manufaktur über-
mittelt haben sollte, wenn es eigene Wirkereiateliers besaß und infolge seiner Wohlhaben-
heit um Nachschub aus dem Westen nie verlegen zu sein brauchte.
Nicht anders ist m. E. die Sachlage bei dem hochrechteckigen Behang mit der Heilung
des Blinden von Bethsaida und den Wappen der Lüneburger Geschlechter Witzendorff und
Stöteroggen39), einer Wirkerei aus dem Beginn der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts
(Abb. 81, H. 4,10 m, L. 3,65 m). Die Besteller waren Hieronymus I. von Witzendorff (geb.
5. Juli 1493, 1532 Bürgermeister, gest. 6. Juni 1566) und seine Gattin Anna von Stöteroggen,
Tochter des Hartouicus v. St. (geb. 20. Mai 1494, verh. 1513, verst. 8. August 1571). Der
Entwurf, mit den etwas plumpen italienisierenden Formen der Rahmung, geht auf einen in
Lüneburg ansässigen Maler zurück, der wahrscheinlich in der Lübecker Schule seine Lehr-
zeit durchgemacht hat. Gegenüber den biederen deutschen Zuschauern, die die Heilung mit
Spannung verfolgen, fällt die Gestalt des Christus stark aus dem Rahmen, die von dem
Entwerfer einem französischen Vorbild, wahrscheinlich einer Holzschnittbibel — ähnlich
wie das Tourainer Heilandleben zu La Chaise-Dieu, das mehrfach Christus in ganz ähn-
licher Auffassung bringt —, entlehnt zu sein scheint. An die Arbeiten der Tourainer Gruppe
erinnern weiterhin die reihenweise aufgestellten Blumenbüschel zu Füßen des Heilandes.
Ganz aus der Art fallen die in Ranken auslaufenden fratzenhaften Zwerge oder
Dämonen, die den inneren Rundrahmen halten, Gebilde, die einer illuminierten Hand-
schrift oder einer Stichfolge entnommen sind, deren Provenienz nach dem Wege über Kar-
tonzeichner und Wirker mit Sicherheit kaum festzustellen ist. Alles in allem läßt sich von
dem merkwürdig heterogenen Teppich kaum noch behaupten, daß er in einem französi-
schen Atelier entstanden ist. Die größere Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ein einge-
wanderter Franzose, wie so mancher aus der Heimat übergesiedelte Wirker, einen gewissen
Vorrat an Vorlagen mitbrachte, die von den deutschen Zeichnern nicht gerade sonderlich
geschickt zusammengestellt und umgearbeitet wurden. Die wild verschlungenen Spruch-
bänder, die wenig glücklich die Figuren überschneiden (links), glossieren in Lüneburger
Mundart die dargestellte Handlung40).
Die Technik weicht im übrigen von der Arbeitsweise der Touraine ab, sie zeigt das
typische Gepräge der langen Tournaiser Schraffen. Als Eigenart des Zeichners, nicht des
Wirkers, erscheinen die großen aufgerissenen Augen mit den fast kreisrunden dunklen
Pupillen.
Die gleiche Freude an der ausdrucksvollen, herben Zeichnung, an den lebhaften mit-
unter schweren Farben äußert sich in einem sehr interessanten Behang (Abb. 82 a) mit
Episoden aus der Josephsgeschichte, den V. C. Habicht in der Klosterkirche zu Medingen
feststellte und in seinem „Niedersächsischen Kunstkreis" veröffentlichte. Der Aufbau —
Hauptszene: Joseph wird in den Brunnen gesenkt, die Brüder bringen dem Vater Josephs
Gewand, darunter drei kleine, durch Pilaster getrennte Episoden: Joseph wird in den Ker-
ker geworfen, Joseph und Potyphars Weib, Joseph vor Pharao — schließt sich an den
Wismarer Streifentyp an, von dem er im übrigen in Palette und Technik abweicht. Auch
ohne die Wappen der Lüneburger Patrizier v. Töbing und Semmelbecker41), ist der Be-
hang unbedingt einer Werkstatt der alten Salzstadt zu überweisen. Die Bordüre mit den
allegorischen Frauengestalten — unten rechts Justitia, links das „alte Gesetz" — und der
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