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206 Frokescb von Osten, Denkwürdigkk. n. Erinnerungen aus d. Orient.
ren Dynasten aus dem Abendlande kriegerisches Wesen und Ge-
schick völlig vergessen hatten. Wie will man nun dieses erklä-
ren? Die lateinischen Christen mit ihrem Heldenmuthe und dem
ganzen Reichthum der germanischen Natur vermochten Konstanti-
nopel nicht länger als 58 Jahre, das eigentliche Hellas aber —
und dieses hauptsächlich wegen seiner excentrischen und dem Ein-
flüsse der Hauptstadt weniger ausgesetzten Lage, mit Kraft nicht
viel länger zu bewahren, während die Osmanli seit mehr als 400
Jahren mit ihrer, nach unserer Meinung, sehr mittelmässigen Staats-
kunst, sich als Herrn der ganzen alten Monarchie des Theodosius
behaupten. Scheint es nicht, dass jeder Thron, der unter jenem
Himmelsstriche bestehen will, sich auf die uralten, seit fünfzehn-
hundert Jahren daselbst geltenden, und gleichsam in Blut und Le-
ben jener Völker eingedrungenen politischen Gewohnheiten und
Verwaltungstheorieen stützen müsse, und dass — wenigstens bis
auf die neueste Zeit — ein Mur ad, ein Suleiman mit ihrem
Diwan und ihren Janitscharen-Ortas grössere Sympathie und dau-
erhaftere Macht gefunden habe, als einst der tugendhafte Bal-
duin von Flandern oder der kriegerische Johann von Brienne mit
all ihrem menschenfreundlichen Sinn und ihren persönlich unbe-
siegbaren Rittersehaaren ? Statt einen ureinsässigen, der Politik
des Occidents von Anbeginn feindlich entgegengesetzten byzantini-
schen Reichsgenius anzuerkennen, erzürnt sich Hr. Prokesch über
Herrscher Vergötterung und Pfaffen trug.
Erster, und man möchte sagen einziger Zorngrund, der die
abendländischen Schriftsteller gegen das griechische Reich ent-
flammt, bleibt immer der standhafte Sinn, mit welchem es die zu
verschiedenen Zeiten daselbst eingedrungenen Elemente lateini-
scher Herrschaft, Sitte und Kirche zurückwies, absorbirte oder
auswarf. Wie kann man nun aber ein mehr als anderthalbtau-
sendjähriges Volksleben als Frucht gemeinen Pfaffentrugs erklä-
ren ? Man lebt und man vertheidiget sich gegen geistige und ma-
terielle Angriffe nicht so lange blos mit Hülfe schlechter Künste:
es muss sich hier ein eigenkräftiges Nationalleben gebildet haben,
um ein Phänomen dieser Art hervorzubringen.
Der Gegensatz zwischen Orient und Occident scheint aber in
Auffassung der religiösen Idee nicht weniger als der politischen
und philosophischen auf einem höheren Gesetze zu beruhen und
daher unausgleichbar zu seyn. Das Christenthum, im Abendlande
geläutert, beweglich und eine lange Reihe von Verwandlungen
durchlaufend, ewig schaffend und befruchtend, bildete sich dage-
 
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